Rede von Wolfgang Neskovic. Rechtspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag

Liebe Mitstreiterinnen, Liebe Mitstreiter,
vor gar nicht langer Zeit haben wir uns auf dem Parteitag in Cottbus getroffen.
Dort hatte ich die Gelegenheit, mich für eine deutlichere Betonung des Rechtsstaates in Eurem Leitbild stark zu machen.
Und heute gibt es aus Euren Reihen bereits ein Diskussionspapier, das diesen Ansatz nicht nur aufgreift, sondern schon weiterentwickelt.
In Cottbus ging es mir ja darum, Euch für das Leitbild einen Aspekt zu nennen, von dem ich meinte, er fehlte noch. Heute will ich meine Ausführungen um notwendige Überlegungen ergänzen und erweitern. Ich will zum sozialen Rechtsstaat reden und damit im Kern zum Sozialstaat. Die Ausgangssituation hierzu ist eine ganz andere als bei meiner vergangenen Rede.
Euer Leitbild enthält nicht nur eine große Vielzahl von richtigen und wichtigen sozialstaatlichen Forderungen, es kennt auch bereits konkrete Strategien, wie sich diese Forderungen landespolitisch umsetzen lassen.
Das ist ein detailreiches Bild, zu dem es aus meiner Sicht nichts zu ergänzen gibt.

Es kann mir heute also nur die Aufgabe zu kommen, Euch bei diesen Forderungen den Rücken zu stärken.
Und ich denke, ihr braucht alle Kraft, die ihr bekommen könnt, um Euch mit euren sozialpolitischen Forderungen durchzusetzen.
Das gesellschaftliche Klima in unserem Land ist auf den Abbau und nicht auf den Aufbau sozialstaatlicher Standards getrimmt.
Es ist ebenso schwierig, wie dringend erforderlich, diesem Klima wirkungsvoll entgegenzutreten.
(…)
In Cottbus ließ ich in meiner Rede den „Herrn Rechtsstaat“ sagen, für sehr viele dringliche Fragen, sei nicht er – der Rechtsstaat – sondern seine kleine Schwester „die Frau Sozialstaat zuständig.“
Diese Feststellung des Herrn Rechtsstaat darf so nicht stehen bleiben.
Ich möchte daher für die Familienverhältnisse klarzustellen: Der Sozialstaat ist nicht die kleine Schwester des Rechtsstaates.

Der Sozialstaat ist ganz und gar nichts Kleineres, sondern von gleichem Verfassungsrang wie Rechtsstaat, Demokratieprinzip, föderale Verfasstheit und Grundrechtskatalog.
Ohne den Sozialstaat gibt es keine echte Rechtsstaatlichkeit und umgekehrt.
Denn das Soziale verhilft auch dem zum Recht, der sich das Recht ohne Hilfe nicht leisten könnte.
Und nur der Rechtsstaat vermag es, die gerechte Teilhabe der Menschen am Reichtum der Gesellschaft in verlässlicher Weise dauerhaft zu sichern.
Wer das in Deutschland heute so sagt, den nennt man einen Linken.
Diese Position entstammt aber keinem linken Grundsatzpapier.
Sie ist auch nicht etwa das jüngste Arbeitsergebnis meiner Fraktion am Bundestag.
Man muss nicht einmal links orientiert sein, um darauf zu stoßen.
Die Bundeskanzlerin hat vor ein und einhalb Jahren ihren Amtseid auf diese Position geschworen und auch das Kabinett ließ sich nicht lumpen und tat es ihr nach.
Ein ganzes Heer an motivierten Geheimdienstlern wird unterhalten, um genau diese Position vor inneren und äußeren Bedrohungen zu schützen.

Jetzt werdet Ihr sagen: „Na das wäre doch prima; Glaube ich aber nicht!“
Was sich anhört, wie eine verrückt gewordene Welt mit vertauschten Positionen, wird schnell erklärbar, wenn man unsere Verfassung zu Rate zieht.
Das Grundgesetz selbst verpflichtet die gesamte Staatsgewalt zur Beachtung des hohen Ranges des Sozialstaates.
Wenn also die Bundeskanzlerin ihren Amtseid auf dieses Grundgesetz schwören konnte, so hat sie auch auf die Einheit von Rechtsstaat und Sozialstaat geschworen.

Dass Sie es tat, sagt rein gar nicht über die Qualität der Verfassung aus, wohl aber über die Eidestreue der Bundeskanzlerin.
Steht es mit diesem Eid in Einklang, wenn sie ihre Richtlinienkompetenz im Kabinett zum Raubbau am Sozialstaat gebraucht?
Liegt Eidesbruch von Sozialminister Müntefering vor, wenn er sein Haus anweist, dem Bundestag einen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem eine ohnehin schon sozialstaatswidrig niedrige Unterstützung auch noch an eine Gegenleistung geknüpft wird?
Wenn schließlich der Verfassungsschutz Mitglieder der Linken überwacht, so schützt er nicht etwa die Verfassung, sondern er sichert – ganz im Gegenteil – die Bestrebungen derjenigen, die sie täglich unbeachtet lassen …
… und er forscht diejenigen aus, die darum kämpfen, dass die Versprechungen –  oder sollte ich besser sagen: „die Verheißungen“ – der Verfassung ihre Lebenswirklichkeit erreichen.
Es scheint also, als machen hier sämtliche Leute ihre Arbeit nicht oder nicht richtig.
Wie kann das sein? Was ist hier los?

Es macht aus neoliberaler Sicht vollkommenen Sinn, die Verfassung zu ignorieren.
Und es macht auch Sinn, Menschen zu überwachen, die die Verfassung ernst nehmen.
Denn unser Grundgesetz ist alles andere als eine neoliberale Verfassung.
Diese Verfassung ist mindestens eine soziale, wenn nicht sogar eine sozialistische Verfassung.
Gleich im ersten Artikel des Grundgesetzes heißt es:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
In Würde lebt nicht schon, wer nur schlicht überlebt.
In Würde lebt ein Mensch, der neben der Ernährung auch eigene Unterkunft, notwendige Kleidung, Fahrtmöglichkeiten, kulturelle Einflüsse und die Möglichkeit zur Bildung und Selbstverwirklichung erhält.
Deswegen nimmt der nach Hartz IV festgesetzte Regelsatz von dreihundertfünfundvierzig Euro den Menschen ihre Würde.

( – )
Wer den Weg zum demokratischen Sozialismus im Grundgesetz sucht, kommt jetzt zur nächsten Vorschrift:
In Artikel 14, Absatz 1 wird das Eigentum gewährleistet. Nicht jedoch die Form des Eigentums.
Danach sind alle Formen des Eigentums vom Alleineigentum, über das Teileigentum hin bis zum gesellschaftlichen Gemeinschaftseigentum denkbar.
Das Grundgesetz begnügt sich jedoch nicht mit dieser Garantie. Vielmehr formuliert Artikel 14, Absatz 2 unmissverständlich:
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“
Damit löst sich das Grundgesetz von den Wertungen jenes Gesetzbuches aus dem Jahre 1900, das man zu Recht als das Bürgerliche bezeichnet.
Danach konnte der Eigentümer einer Sache, mit dieser nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.
Mit dieser überkommenen Vorstellung vom Eigentum  räumt das Grundgesetz auf, in dem es das Eigentum in eine gesellschaftliche Verpflichtungsbeziehung stellt.

Ich will das an einem Beispiel erläutern, dass jedem Jurastudenten in seiner Ausbildung begegnet:
Stellt Euch eine wunderschöne, große, prächtige Rotbuche vor, deren Anblick das Herz der Menschen erfreut.
Stellt Euch nun vor, diese Rotbuche steht auf Eurem Grundstück – ausgerechnet vor der Terrasse, die sie mit ihrem üppigen Blattwerk verschattet.
Ein Ärgernis!
Zumal auch der Kamin nach Brennholz schreit.
Ihr erinnert Euch an die Bürgerliche Vorschrift, wonach der Eigentümer einer Sache mit ihr nach Belieben verfahren kann.
Also packt Euch die Lust und ihr die Kettensäge, um dem Baum zu Leibe zu rücken.
Jetzt fällt Euch die Gemeinschaft in die Hand und ruft:
„Eigentum verpflichtet!“
Ihr dürft es nicht, weil die Sozialpflichtigkeit des Grundgesetzes genau dies verhindert.
Und was für Rotbuchen gilt, gilt auch für Banken.
Auch ihr Eigentum am Kapital dient nach dem Grundgesetz zugleich  dem Wohl der Allgemeinheit.
Was heißt das?
Durch Gesetz könnte zum Beispiel die dienende Funktion des Eigentums auch für die Gesellschaft – und nicht allein für die Kapitaleigner  – nutzbar gemacht werden.
Und zwar, indem die Banken verpflichtet werden, bei der Schuldenaufnahme der öffentlichen Hand nicht den marktüblichen Zins, sondern zum Beispiel nur 2 Prozent verlangen dürfen.
Das wäre eine echte Gemeinschaftsleistung der Banken und eine Wohltat für uns alle.
Das ganze Gerede von der Staatsverschuldung könnte bald abflauen.
Ihr seht, welche Schätze unsere Verfassung enthält. Wir müssen sie nur heben!
Aber lasst uns weiter den Weg des Sozialen im Grundgesetz verfolgen.
Denn jetzt nimmt das Grundgesetz so richtig Fahrt auf.
Nach Artikel 14 folgt Artikel 15. Dort findet sich für neoliberale Denker und Handler Erschreckendes.

Ich lese vor:

Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
Das Grundgesetz stellt also fest, dass bei zentralen Gemeinschaftsgütern der Gemeinschaftsgedanke und nicht das private Eigeninteresse im Vordergrund steht.
Wer im Grundgesetz dagegen nach einer Grundlage für die Privatisierung von Staatseigentum sucht, wird dabei erfolglos bleiben.
Das ganze Gerede vom schlanken Staat findet an keiner Stelle unserer Verfassung irgendeine erkennbare Grundlage.
Deswegen gilt, was in unserem Wahlprogramm zu den Bundestagwahlen 2005 zu lesen ist:
„Die Versorgung der Menschen mit Wasser und Strom, die Müll- und Abwasserentsorgung, der öffentliche Personennahverkehr, Post- und Telekommunikation, kulturelle Leistungen, Gesundheitsdienste, Angebote zur sportlichen Selbstbetätigung …
… und das Bildungswesen sind Leistungen, die im Interesse des Gemeinwohls sicherzustellen sind. Leistungen der Daseinsvorsorge und öffentlichen Dienste von allgemeinem Interesse dürfen nicht der privaten Konkurrenz unterworfen werden. Vor allem Bildung, Kultur und Gesundheit dürfen nicht zu Waren degradiert werden.“
Diese Wahlaussage ist eine echte Verteidigungsschrift für den sozialistischen Geist unseres Grundgesetzes.
Und nun zum krönenden Abschluss unserer Reise durch das Grundgesetz:
In Artikel 79 Abs. 3 befindet sich eine Bestimmung, die weltweit einmalig ist und nur vor dem Hintergrund der Besonderheiten unserer Geschichte zu verstehen ist.
Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes waren so misstrauisch gegen ihre Nachfahren und damit auch gegen uns, dass sie für alle Zeiten unabänderlich festgelegt haben, dass bestimmte und zentrale Werte unserer Verfassung nicht mehr zur Disposition des Volkes stehen.
Hierzu zählt auch das Sozialstaatsprinzip.

Deswegen gilt:
Wer uns sagt, wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten, ist ein Verfassungsfeind, bestenfalls ein Verfassungsignorant.
(..)
Auch wenn das Grundgesetz keine nähere Erläuterung vornimmt, welche politischen Konsequenzen das Sozialstaatsprinzip hat, so sind folgenden Grundsätze nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes bislang unstreitig:
– Entgegen der neoliberalen Propaganda ist der
Sozialstaat ein starker, aktiver Staat, wenn es um
die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft geht.
Dafür braucht er die notwendigen Einnahmen.
Deswegen ist eine gerechte Steuerpolitik erforderlich
– und keine staatliche Reichtumspflege.
– Entgegen der neoliberalen Propaganda gilt nicht der
Grundsatz der Eigenvorsorge, wenn es um die
allgemeinen Lebensrisiken geht.
Sondern es ist Aufgabe des Sozialstaates, seine
Bürger gegen Lebensrisiken zu sichern.
– Entgegen der neoliberalen Propaganda zielt der
Sozialstaat auf Ausgleich und auf soziale
Gerechtigkeit ab.

Fasst man zusammen, so bleibt die Feststellung:
Das Grundgesetz gewährleistet nicht nur den Sozialstaat, sondern es ist eine ideale Verfassung für einen demokratischen Sozialismus.
(…)
Ich meine, es hilft ganz erheblich, wenn man die Verfassung in der politischen Auseinandersetzung auf der eigenen Seite weiß.
Ihr seht, was die Verfassung für unsere politische Argumentation bereit hält.
Wir wären töricht, wenn wir auf die soziale Kraft dieser Verfassung in der Diskussion mit dem politischen Gegner verzichten würden.
Als Linke haben wir bislang viele unserer politischen Forderungen mit dem humanistischen Ideal begründet, obwohl doch das Grundgesetz unsere Sprache spricht und unsere Gedanken enthält.
Aber auch als Jurist und gerade als Jurist ist mir natürlich bewusst, dass rechtliche Grundsätze wenig nützen, solange nicht die Macht besteht, sie auch durchzusetzen.

Ich sagte es am Anfang schon: das Klima in unserem Land ist auf den Abbau sozialer Standards getrimmt, nicht auf deren Ausbau.
Wer heute in Deutschland für den Sozialstaat eintritt, hat es schwer.
Er liegt nicht im Trend.
Er pfeift die falschen Lieder.
Es heißt heute, der Sozialstaat sei ein unzeitgemäßer, steinalter bismarkscher Einfall, der dann in den guten Jahren der Bundesrepublik zur überschätzten Weisheit geraten sei und heute allenfalls nur noch als Schnapsidee tauge.
Die politische Mitte singt dieses Lied aus voller Brust.
Allenfalls die Anzahl der Strophen variiert noch zwischen CDU und SPD.
Auch die Medien singen das Lied zu allermeist mit. Von Reformstau ist die Rede und von einem fehlenden Mut der Politik das Unbeliebte zu tun.
Als sei es ein erstrebenswertes Ziel von Politik, den Menschen zu schaden.
Das Lied ist zum Gassenhauer geworden. Nicht nur die Politik und die Medien pfeifen es.

Leider ist es auch ein Ohrwurm für Viele in der Bevölkerung geworden.
Man hört das dumme Lied natürlich auch am Kneipentisch.
Jeder kennt eine Geschichte von einem der gesund und kräftig ist, aber nicht arbeiten mag. Die kleine Geschichte wird dann schnell zu einer großen Verleumdung von Millionen, die sich nach Arbeit sehnen, um Arbeit kämpfen aber keine erhalten.
Der schrille Chor, der vom Ende des Sozialstaates singt, überschreit derzeit die vielen leisen vernünftigen Stimmen, die gute Einfälle, die richtigen Vorschläge.
Dieser Chor übertönt zur  Zeit auch noch uns.
Wir müssen uns deshalb der Frage stellen, welche Rahmenbedingungen einst den Sozialstaat hervorbrachten.
Wir müssen uns auch mit der Frage auseinandersetzen, welche Rahmenbedingungen heute seine Verteidigung so erschweren.
(…)
Als das fortschrittliche Grundgesetz einst geformt wurde, pfiff man nämlich ein ganz anderes Lied.
Man pfiff das viel schönere, gar nicht dumme Lied von der Notwendigkeit des Sozialstaates.
Der Sozialstaat als ein Schutzengel für Jeden Einzelnen.

Dabei geht es nicht nur darum, das bloße Überleben der Menschen zu sichern, sondern es geht um die Sicherung ihrer Lebensqualität.

Der Sozialstaat ist die gerechte Korrektur, um das Gerechtigkeitsrisiko auszugleichen, dass darin besteht, arm oder reich geboren zu werden, begabt oder unbegabt zu sein, stark oder schwach zu sein.
Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der ohnehin schon hat und er nimmt schon gar nicht dem, der ohnehin wenig hat.
Er ist ein Staat, der es den Menschen ermöglicht, sich auf Augenhöhe zu begegnen.
(..)
Und der Sozialstaat – so sagte man das bei der Beratung des Grundgesetzes – sei die einzige Möglichkeit, den Sozialismus in der Bundesrepublik zu verhindern.
Hinter der Idee des Sozialstaates stand ein ganz enormer Druck.
Die Geschichte stellte diesen Druck her.
Als das Grundgesetz geschrieben wurde, ging ein frischer Riss durch Europa und die Welt.
Der Riss teilte die Ökonomien auf.
Er trennte die Vorstellungen zum Aufbau der Gesellschaft.
Er zerriss die Vorstellungen zur Zukunft der Menschheit.
Der Riss verlief zwischen den kapitalistischen Staaten und den sozialistischen Staaten und bedrohte so die Zukunft der gesamten Menschheit.
Der Riss war aber auch von Anfang an eine Quelle für einen Wettbewerb zwischen Ost und West.
Es ging bei diesem Wettstreit um die Fragen,
– welches Gesellschaftssystem den Menschen die
meisten Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung
gewährte,
– ihre materiellen Bedürfnisse am überzeugendsten
befriedigte,
– ihnen nicht nur Freiheit, sondern zugleich
soziale Gerechtigkeit bot.
Das Grundgesetz wurde im Bewusstsein dieses Wettbewerbes entworfen.
Es wurde im Bewusstsein dieses Wettbewerbes interpretiert, angewandt und weiterentwickelt.
So manche alte sozialdemokratische Forderung entsprach nun plötzlich zufällig dem katholischen Sozialgedanken.
So mancher Widerspruch zwischen Arbeiter- und Unternehmerinteressen ließ sich glätten oder verschwand.
Denn es ging schließlich um nichts weniger, als die Fortführung der kapitalistischen Wirtschaft als solche.
Folgerichtig entwarfen die Verfasser des Grundgesetzes das Regelwerk eines anpassungsfähigen, sozial lernfähigen Kapitalismus‘.
Und dieses Regelwerk wurde gepflegt.
Es wurde genutzt, um dem Kapitalismus immer wieder ganz erhebliche Zugeständnisse abzuringen.

Als Schaufenster zum Osten, war sich die Bundesrepublik stets darüber bewusst, dass man die Lebensqualität ihrer Bürger genau beobachtete.
Auch damals fanden Globalisierungsprozesse statt.
Die Automatisierung und Robotisierung begann bereits in den späten sechziger Jahren.
Die „Ein-Kind-Familie“ bürgerte sich ein.
Die Einzahler in die sozialen Sicherungssysteme wurden weniger.
Die Menschen lebten länger und gesünder.

Die notwendigen Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme stiegen.
Jede Menge internationaler Krisen gefährdeten immer mal wieder die heimische Wirtschaften.
Dennoch hätte niemand (!) vor 1989 den politischen Selbstmord unternommen, die Auswirkungen dieser Prozesse als Rechtfertigung für eine Demontage des Sozialstaats anzuführen.
(…)
Und dann endete der kalte Krieg.
Der Riss, der durch die Welt ging, verschwand.
Doch auch die Konkurrenz zwischen den Systemen endete.
Mit dem Ausgang des Systemkonfliktes hat sich der Kapitalismus  schrittweise und zunehmend erfolgreich der lästigen Begrenzungen und Disziplinierungen entledigt, die ihm in vierzig Jahren kaltem Krieg auferlegt wurden.
Ein Schlagwort des Kapitalismus ist bekanntlich das Wort vom Wettbewerb.
Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass dem Kapitalismus selbst – als System – ganz offenbar der Wettbewerb verloren gegangen ist.

Es existiert schlicht kein ernstzunehmendes politisches Konkurrenzmodell, mit dem er sich messen müsste.
Und genau darunter leidet die Qualität der Marke „Kapitalismus“.
Wir erleben die große Renaissance des rücksichtslosen Kapitalismus‘, der nur noch Gewinninteressen kennt, weil er seinen Selbsterhalt nicht mehr gefährdet sieht.
Ich denke, hier liegt die wesentliche Ursache für Sozialabbau und zugleich die Ursache für den hartnäckigen Widerstand gegen den Ausbau sozialer Rechte.
Hier liegt der wesentliche Grund dafür, dass die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden.
Das ist der Grund, warum der klamme Staat es nicht wagt, seine Kassen durch eine stärkere Besteuerung der hohen und höchsten Einkommen wieder zu füllen.
Es fehlt der Druck hinter den politischen Entscheidungen.
Es fehlt der Druck, der die Erkenntnis auch bei den Unwilligen beflügelt.

Wenn es jemanden gibt, der diesen Druck wieder ausüben könnte….
DANN SIND DAS WIR!
Wir sind heute als demokratische Linke die produktive Konkurrenz zur Marke Kapitalismus.
Dafür benötigen wir nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die besseren Argumente.
Die haben wir.
Leider ist es uns bislang nicht gelungen, dafür zu sorgen, dass genügend Leute das auch bemerken.
Wir benötigen mehr Wähler, mehr Anhänger, mehr Umdenken.
Wir benötigen dazu eine deutliche Sprache.
Wenn der Kapitalismus sich zunehmend auf das nutzlose Kunststück reduziert, mit immer weniger Beschäftigten immer mehr Waren zu produzieren, die sich dann ein Heer an Beschäftigungslosen nicht mehr leisten kann …
… dann muss er sich wohl oder übel mit der Frage auseinandersetzen, ob er überhaupt noch ein zukunftsfähiges Gesellschaftsmodell ist.
Ein Wirtschaftssystem unterliegt keinem Selbstzweck. Es hat den gesellschaftlichen Zweck, als Nutzen bei möglichst vielen Menschen anzukommen.
Kommt dieses Wirtschaftssystem bei immer mehr Menschen immer weniger an, dann ist es auch immer mehr nutzlos.
Als demokratische Sozialisten stellen wir heute den Kapitalismus erneut vor die Wahl: Nimm unsere Vorschläge an!

Zeige, dass Du Deine ökonomischen Potenz auch wieder dafür verwendest, die sozialen Probleme zu lösen – Dann zeigst Du, dass Du immer noch zukunftstauglich bist.
Oder produziere wachsendes Elend und Perspektivlosigkeit – dann werden wir, dann müssen wir mit dem Willen der Wähler und Wählerinnen dafür Sorge tragen, …
… dass es endlich jedem Menschen ermöglicht wird,
– in Freiheit,
– in gerecht verteiltem Wohlstand
– und in Würde zu leben.

Ich danke Euch.