Zum Papier „Mehr Lebenschancen für mehr Menschen“

von Matthias Platzeck und Jens Bullerjahn erklärt die Fraktionsvorsitzende Kerstin Kaiser:Ministerpräsident Platzeck hat in seinem gemeinsamen Papier mit dem sachsen-anhaltischen Finanzminister Bullerahn eine bemerkenswert harte und aus unserer Sicht zutreffende Kritik der bisherigen Sozialpolitik in Bund und Land vorgenommen. Es stimmt, dass „unser bisheriges Sozialmodell ganz einfach nicht genug neue Lebenschancen, zu wenige Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, nicht genug soziale Inklusion, gesellschaftliche Durchlässigkeit und aktive Beteiligung“ gewährleistet – und es stimmt, dass wir mit „katastrophalen Folgen zu geringer sozialer Investitionen in die Zukunft von Kindern und Jugendlichen“ konfrontiert sind.
Wer aber eine solche Einschätzung vornimmt, muss daraus praktische Konsequenzen ziehen: und zwar einen Kurswechsel einleiten. Ein solcher Kurswechsel ist mehr als ein Wechsel der Begriffe – erforderlich sind praktische, sofort einleitbare politische Projekte. Genau das aber fehlt im Platzeck-Bullerjahn-Papier. Dabei liegen die Schlussfolgerungen auf der Hand.
Zur Mehrung von Lebenschancen sind nötig:

  • eine Reform der „Hartz-Reformen“. Sie sind insgesamt ein ungeeignetes Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung; sie haben sich in keiner Weise bewährt. Aber wenn es Platzeck und Bullerjahn ernst wäre mit dem Umbau zum vorsorgenden Sozialstaat, dann müssten sie jetzt z. B. wenigstens dafür eintreten, die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit in Bildungs- und Weiterbildungsprojekte fließen, und damit den Betroffenen als Investition in die Zukunft zugute kommen zu lassen. Doch genau das geschieht nicht; die Mittel dienen zur Entlastung der Bundesagentur und zur Dämpfung der Beiträge.
  • Eine soziale Bildungsreform. „Skandinavisch schlau“ – dem Anliegen „Gute Bildung für alle“ unter Berücksichtigung der Erfahrungen der PISA-Sieger folgt die rot-rote Koalition in Berlin. Platzeck und Bullerjahn hingegen haben sich in ihren Ländern für Koalitionen mit der Union entschieden – im Wissen, dass gerade in der Bildungspolitik hier die Differenzen groß sind. Da wird jetzt einerseits betont: „Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen. Alle Bildungspotentiale müssen ausgeschöpft werden.“ Und andererseits wird in Brandenburg die Auslese weiter perfektioniert, die sechsjährige Grundschule durch die Einführung von Leistungs- und Begabungsklassen gefährdet, eine „Oberschule“ als eine Sackgasse eingeführt, der Zugang zum Abitur beschränkt. Die sonderpädagogische Betreuung bleibt unzureichend und der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz eingeschränkt.
  • Eine Initiative für öffentlich geförderte Beschäftigung. Gewerkschaften, Träger, Kommunen und auch Kirchen fordern das unisono – z. B. in Brandenburg. Bei der ersten Lesung des Landeshaushalts im September 2006 haben wir zum politischen Wettbewerb um ein Projekt „Öffentliche Beschäftigung in Brandenburg“ aufgerufen – bei Nutzung jener Gelder, die über die BfA, die aus den Bundes- und Landesmitteln der EU-Strukturfonds und von ELER dafür zu mo­bilisieren sind. Der Aufruf verhallte bislang ohne jede Resonanz – auch bei Matthias Platzeck.
  • Ein Vorstoß zur Änderung der Umverteilungsrichtung bei den öffentlichen Finanzen: Nicht mehr weiter von unten nach oben, sondern von oben nach unten! Die hoch gepriesenen Steuermehreinnahmen 2006 sind nur ein Bruchteil dessen, was den Unternehmen und den Besserverdienenden insbesondere durch die rot-grüne Steuerreform in den letzten Jahren erlassen worden ist. Und Brandenburgs SPD-Finanzminister Speer sollte wenigstens die Kraft haben, für eine faire und solidarische Finanzverteilung unter den Ländern zu streiten – anstatt sich im Streit um das Berlin-Urteil ausgerechnet an die Seite von Christian Wulff zu schlagen und das mit so vielen Erwartungen der Landesregierung belastete Berlin der Verschwendungsmentalität zu bezichtigen.
  • Ein Konzept für eine ausgewogene Regionalpolitik und für ausgeglichene Lebenschancen, für gleichwertige Lebensbedingungen. Das Papier der ostdeutschen SPD-Fraktionsvorsitzenden aus der vergangenen Woche zielt auf dieses Thema ab – und vertagt es weitere 15 Jahre. Und angesichts der Berlin-Zentriertheit schon des Leitbildes unserer Landesregierung für Brandenburg ist auch kaum damit zu rechnen, dass Matthias Platzeck auf bundespolitischer Ebene ein Konzept für einen vorsorgender Sozialstaat in strukturschwachen Regionen auf die Beine bekommt.

Die Linksfraktion wird die Ernsthaftigkeit der sozialdemokratischen Einlassungen an der Bereitschaft zu solchen Projekten messen.