Reise ins gelobte Land
„Angela Merkel hat gesagt, Leute, wir brauchen Fachkräfte, wir brauchen euch. Kommt nach Deutschland!“ 100.000 offene Ingenieursstellen gebe es für Spanier im gelobten Land, stand in den Zeitungen geschrieben. Doch auch wenn die Zahl mittlerweile um eine Null nach unten korrigiert worden ist – Merkels Besuch wirkt bis heute nach. Aber nicht nur in Spanien. Nach der Visa-Liberalisierung auf dem Balkan kommen auch von dort viele Menschen in das Land, wo Milch und Honig fließt. Da, wo die Kassen voll und selbst die Haushaltsüberschüsse satt sind. Und nicht nur von dort, auch aus den mittel- und osteuropäischen Ländern insgesamt hat eine Wanderung von der Peripherie ins Zentrum eingesetzt. Alle Wege führen nach Rom, so sagte man früher. Heute aber liegt Rom nicht mehr in Italien, selbst der deutsche Papst hat abgedankt. Rom liegt in Deutschland, es ist Berlin. Eine Wanderungsbewegung, das gefällt nicht jedem, der kleinnationalistische Wohlstand, den man seit zehn Jahren mit dem Euro aufgebaut hat, scheint bedroht und schon wird eine andere Tonart angeschlagen.
Das Boot ist voll. Den Asylmissbrauch stoppen. Gute Heimreise. Wir kennen diese rassistischen Kampagnen der CSU bereits von Franz-Josef Strauß und Friedrich Zimmermann. Damals Wirtschaftsflüchtlinge, heute „Armutszuwanderer“. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) will nun „Armutszuwanderung“ aus Bulgarien und Rumänien mit einem Einreiseverbot stoppen. Friedrich wörtlich:
Wir geben eine Menge Geld an die Europäische Union zum Zwecke auch der Hilfe für die Länder aus Osteuropa. Und das muss dann auch entsprechend genutzt werden. Wir zahlen nicht zweimal. Nicht einmal über die Europäische Union und ein zweites Mal durch Sozialleistungen hier.
Dass dies eine kurzfristige Stammtischpolterei für den bayrischen Landtagswahlkampf ist, kann man bereits daran erkennen, dass ab 2014 auch für Rumän*innen und Bulgar*innen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa gelten wird. Dies ist gewollte Europäische Integration und es ist aus Sicht der jeweiligen Menschen in den Mitgliedsländern der EU völlig nachvollziehbar, dass sie dorthin gehen, wo Überfluss herrscht und kein Mangel.
Dies bezieht sich nicht nur auf Rumänien und Bulgarien, sondern auf die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten, aber auch auf Südeuropa. Bereits im vergangenen April wurde der Streit um neue Schengen-Regeln aufgekocht. Deutschland und Frankreich wollten aus Angst vor illegaler Einwanderung wieder nationale Landesgrenzen kontrollieren lassen. In Dänemark wurden die Grenzkontrollen wieder eingeführt. Die Festung Europa wäre so der erste Schutzwall, die Bundesrepublik würde zur inneren kerneuropäischen germanischen Schutz- und Trutzburg. Angesichts der politischen Lage in der EU der 27 wird hier eine Renationalisierung in hohem Ausmaß sichtbar. Hieraus resultiert dann immer die Tendenz zu einem starken Rechtsruck, Ungarn lässt grüßen und auch die Morgenröte in Griechenland.
In Griechenland wurden in dieser Woche die Proteste gegen die Sparpolitik fortgesetzt. Fähren blieben im Hafen und Schulen geschlossen. Die sozialen Bremsspuren der neuen europäischen – maßgeblich von Merkel durchgesetzten – Fiskalpolitik fangen erst jetzt an, ihre langfristigen Folgen, das heißt ihr hässliches Gesicht zu zeigen. In Krankenhäusern arbeitete nur Notfallpersonal. Die zwei größten Gewerkschaften hatten zu dem 24-Stunden Streik aufgerufen. Es war der massivste Protest der letzten Monate. Dieses Jahr sollen 25.000 Beamte gehen. Dazu hat sich die Regierung gegenüber den internationalen Geldgebern verpflichtet. Lehrerin Constantina Kapura stellt wie so viele fest:
Das Geld reicht nicht, um durchzukommen. Ich weiß nicht, was den Menschen bleibt, außer zu protestieren. Der Lebensstandard nimmt immer weiter ab, wir kommen nicht über die Runden.
In Bulgarien ist die Regierung zurückgetreten, doch die Menschen sind trotzdem wieder auf die Straße gegangen. Tausende protestierten in der Hauptstadt Sofia gegen Sparmaßnahmen und hohe Strompreise. Ein Demonstrant klagte:
Die Menschen in Bulgarien haben es endgültig satt. So kann es nicht weitergehen. Borissow ist weg, aber er war das kleinste Problem, andere sind immer noch an der Macht und deswegen werden wir den Kampf fortsetzen.
Das Parlament soll an diesem Donnerstag den Rücktritt Borissows billigen. Die vorgezogenen Wahlen werden aller Voraussicht nach Ende April stattfinden. Bis dahin soll eine Interimsregierung das Land führen. Die Aktivisten, die Borissows Kabinett zu Fall gebracht haben, gehören zu keiner der etablierten Parteien. Es wird befürchtet, Bulgarien könne in Anarchie versinken, weil der Druck der Straße unberechenbar sei.
In Rumänien platzte die Immobilien- und Konsumblase zum gleichen Zeitpunkt wie in Spanien. Der Deindustrialisierungsprozess, der mit dem EU-Beitritt einsetzte, hält weiter an. Die Immobilienpreise in Bukarest sind halbiert, Bauruinen ragen in den Himmel. Die Sparauflagen wurden über die Anforderungen des IWF hinaus durchgesetzt. Weil ein griechisches Szenario vermieden werden sollte, wurde der sowieso schwache Sozialstaat abgebaut. Löhne und Gehälter in Rumäniens öffentlichem Sektor wurden um 25 Prozent gekürzt, Sozialleistungen wie das Elterngeld gestrichen, ein Viertel der Krankenhäuser geschlossen und mehr als 100.000 Stellen im Staatdienst abgebaut. Auch in den anderen osteuropäischen Ländern sieht es schlecht aus. In Tschechien und Ungarn beispielsweise schrumpfte die Wirtschaft im vergangenen Jahr um ein Prozent. Selbst das einstige Musterland Slowenien, das als erstes neues EU-Mitglied 2007 den Euro einführte, steckt in einer schweren Rezession. Viele der Nicht-Euro-Staaten mussten „Rettungsabkommen“ mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und mit der EU-Kommission unterzeichnen.
Kroatien wird im Juli 28. Mitgliedsstaat der EU, es wurde im Dezember auf Ramschniveau herabgestuft. Die Krise traf auch das Nachbarland Serbien besonders schwer. Dragan Matic von der Unabhängigen Industrie-Gewerkschaft in Belgrad sagt:
In der serbischen Industrie sind in den vergangenen 20 Jahren 620.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Das heißt: Zwei von drei Arbeitsplätzen in der Industrie sind heute weg.
Serbien und andere Balkanländer sind auch deshalb so betroffen, weil sie mit zwei Euro-Krisenstaaten besonders gute wirtschaftliche Beziehungen haben: Griechenland und Italien. Der politische Streit um den Kosovo verschärft dort die Lage anhaltend.
In Spanien sollte ein Rentnerpaar delogiert werden, weil sie ihre Schulden bei der Bank nicht mehr bezahlen konnten. „Wir erwarten schlechte Nachrichten“, hatten die beiden spanischen Senioren, die in dem Urlaubsort Calvià wohnten, den Nachbarn voller Angst erzählt. Sie meinten den gerichtlichen Räumungsbefehl, den das Geldinstitut durchgesetzt hatte, um die Wohnung zu pfänden. Als der Bescheid eintraf, sahen Pedro T. (68) und Jovita R. (67) in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg mehr, als ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Kein Einzelfall: Seit Monaten erschüttert eine Welle von Selbstmorden das Krisenland, in dem hunderttausende Familien vor allem durch Arbeitslosigkeit in die Armut rutschten und nun auf einem Schuldenberg sitzen. Erst am Vortag hatte sich ein 56-Jähriger in seiner Wohnung erhängt, auch ihm drohte der Rauswurf. Strom und Wasser waren bereits abgestellt. Fast zeitgleich wurde über ähnliche Fälle aus Córdoba und Alicante berichtet. In dem Bürgerantrag, der von 1,4 Millionen Unterschriften gestützt wird, verlangen die Aktivisten, alle Zwangsräumungen von Krisenopfern sofort auf Eis zu legen. Seit Beginn der spanischen Wirtschaftskrise wurden über 400.000 Räumungsbefehle vollzogen. Die Banken werden mit Milliarden gerettet, die Menschen in den Ruin getrieben.
Selektive Zuwanderung heißt, die gut Ausgebildeten aus den anderen Staaten, die uns nützlich sind und die wir vernutzen können, früher sagte man ausbeuten, dürfen rein. Bei den anderen spricht man dann von Armutszuwanderung und Sozialschmarotzern. Es handelt sich aber in dem einen wie dem anderen Fall um Menschen mit Hoffnungen und Wünschen. Es sind doch genau die vier Grundversprechen der EU, die diese Wanderungsbewegung auslösen. Es ist doch völlig nachvollziehbar, dass Menschen an den Ort gehen, der ihnen mit dem Beitritt zur EU versprochen wurde. Wer hungert schon gern und lebt gern im Elend? Niemand. Die Menschen machen sich auf den Weg zu einem Ort, der ihnen Freiheit und Wohlstand verspricht. Der ihnen Frieden verspricht. Der ihnen Demokratie verspricht. Sie fordern lediglich dass ein, was ihnen mit dem Beitritt zur EU in Aussicht gestellt wurde und ihnen durch die sehr deutsch geprägte europäische Austeritätspolitik verweigert wird. Merkel und Friedrichs sind Zauberlehrlinge, die jetzt den selbst in Bewegung gebrachten rassistischen Besen loslassen. Wer aber wird der Meister sein, der ihn wieder stoppt?