LINKE Bildungspolitik aus psychologischer Sicht
Die Bildungspolitik ist der politischen Linken eine Herzensangelegenheit. Politisch gestaltbare Bildung beginnt für uns schon im Kleinkindalter und endet nicht mit dem Eintritt ins Berufsleben. Das lebenslange Lernen, aber auch das schulische und universitäre Lernen, ist ein komplexer Prozess, zu dessen Verständnis verschiedene Herangehensweisen vonnöten sind. Eine davon, welche leider nicht immer genügend in linke Politik einfließt, ist die genuin psychologische Perspektive. Dabei soll es natürlich darum gehen, psychologische Erkenntnisse in einem emanzipatorischen Rahmen für Bildungsarbeit einzusetzen. Dieses Papier soll ein Diskussionsvorschlag sein und in unsere Bildungsarbeit einfließen.
Die Bildungspolitik ist vor allem eines der Gestaltungsfelder, in denen wir in besonderem Maße soziale Gerechtigkeit, auch über Generationen hinweg, herstellen wollen. Die Aufgabe der Politik ist es, die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen, damit ein selbstbestimmtes, demokratisches und humanistisches Lernen möglich ist. Wenngleich die Politik im Wesentlichen die Strukturen beeinflussen kann, sollte sie jedoch gerade hierfür auf Kenntnisse der Psychologie zurückgreifen, um ein Bildungssystem zu schaffen, welches optimale Bedingungen für alle schafft.
Die besondere Schwierigkeit dabei ist, die unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse in ein Bildungssystem zu bringen, welches in erheblichem Maße eine Gleichbehandlung vorsieht. Jedoch ist bekannt, dass die formale Gleichbehandlung bei ungleichen Voraussetzungen die Ungleichheiten eher verstärkt. Als demokratische Sozialistinnen und Sozialisten streben wir jedoch eine egalitärere Gesellschaft an. Daher ist es wichtig, sich anzuschauen, wie wir mit Hilfe der Psychologie mehr Emanzipation und Gerechtigkeit im Bildungssystem realisieren können.
1. Die Faktoren, die zum Bildungserfolg beitragen
Bildung hat viele Ziele und ebenso viele Faktoren, die zu ihrem Erfolg beitragen. Bildungserfolg aus linker Sicht sollte am Individuum und seiner Entwicklung ansetzen, wenn auch nicht enden. Dies klingt trivial, ist jedoch eine grundsätzliche Frage des Blickwinkels. Der „gebildete“ Mensch sollte sich selbst als Teil der politischen Gemeinschaft, der Polis, verstehen, als demokratisch-partizipativen Bürger. Wir brauchen eine Sozialisation hin zur Demokratie, da diese nicht vom Himmel fällt.
Natürlich ist auch schulischer Erfolg wichtig. Schule hat den Auftrag, Menschen zu befähigen, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Ein Leistungsmotiv darf dabei kein Tabu sein, das Wort bedeutet im Kontext der pädagogischen Psychologie das Erleben eigener Kompetenz. Diese eigenen Fähigkeiten führen zwangsläufig zu der Frage, wozu der oder die einzelne diese Fähigkeiten nutzt. Hier nimmt linke Bildung den Faden auf und – das kann sie durchaus leisten – führt die jungen Menschen in ihrer Entwicklung zur Entscheidung, etwas für die Gemeinschaft leisten zu wollen, im Sinne der Gemeinschaft zu wirken.
Bildung aus linker Sicht ist immer emanzipatorisch, das Erleben eigener Kompetenz und Autonomie muss dabei im Vordergrund stehen. Empowerment ja, aber im sozialen Kontext.
Bildung im Kapitalismus bedeutet immer Individualisierung, bedeutet einen Wettstreit, bei dem notwendigerweise mindestens ein Teil als Verlierer zurückbleiben muss. Linke Bildung hingegen bedeutet die Freiheit des Einzelnen im Kontext seiner sozialen Eingebundenheit.
2. Bezugsnormen und ihre Wirkungen
In pädagogischen Gruppensituationen, also z. B. im Unterricht, kann der/die Lehrende grundsätzlich nach 2 Prinzipien vorgehen: Er/Sie kann Aufgabengleichheit schaffen, d. h. allen Lernenden die gleiche Aufgabe geben und das Ergebnis nach dem gleichen Maßstab beurteilen. Dieses Vorgehen nennt sich soziale Bezugsnorm und wird gern gewählt, ist es doch einfach und – zumindest oberflächlich betrachtet – gerecht. Bei genauer Betrachtung erinnert es jedoch an die Fabel, in welcher ein Affe und ein Delphin klären wollen wer besser ist und der Schiedsrichter ihnen sagt, die Aufgabe müsse gleich sein, um die Leistung vergleichen zu können. Also erklärt er, dass gewonnen habe, wer am schnellsten einen hohen Baum hinaufgeklettert sei…
Das Gegenkonzept heißt individuelle Bezugsnorm und berücksichtigt so viele verschiedene Faktoren, wie irgend möglich. Darunter fallen als wichtigster Punkt die Anstrengung, aber eben auch die sozioökonomische Herkunft, der Bildungsstand der Eltern, die persönlichen Eigenschaften sowie die momentane Verfasstheit des/der Lernenden u. v. m.
Bringt man nun noch die dritte Bezugsnorm ins Spiel, nämlich die sachliche, wird der Gedanke rund. Sie besagt die Bewertung anhand sachlicher Kriterien.
In der Verbindung bedeutet dies: Anwendung der individuellen Bezugsnorm so oft als möglich, um den Lernenden zurückzumelden, dass ihre Anstrengung sich lohnt, auch wenn ihre Fähigkeiten (noch) unter denen der Anderen liegen mögen und als Abschluss eine Bewertung nach sachlichen Gütekriterien, wie etwa zentrale Abiturprüfungen. Menschen werden im Laufe ihres mit Vergleichen konfrontiert werden und natürlich muss es am Ende eine objektive und vergleichbare Bewertung des Bildungserfolges geben. Diese ist für uns jedoch nur legitim, wenn vorher aktiv Unterschiede abgebaut wurden und eine individuelle Förderung stattfand.
Kinder lernen am Modell; jede Interaktion mit einem Kind hat eine Wirkung. Somit kann nicht von Bereichen mit unterschiedlichen oder gar ohne pädagogischer Relevanz gesprochen werden; es gibt keinen „unpädagogischen Moment“; Kitas und Horte müssen noch stärker in den Fokus rücken. Sie haben einen größeren Freiraum und die Kinder können dort spielerischer auch z. B. ihre motorischen Fähigkeiten trainieren. Sie müssen aber auch entsprechend der Schule stärker gleichgestellt werden, z. B. mit speziell ausgebildeten Fördererzieher*innen sowie einem besseren Betreuungsschlüssel.
3. Ursachen für schulischen Misserfolg
Unter den gegenwärtigen Bedingungen gibt es in der Schule durchaus Zeiten, die als eher anstrengend erlebt werden. Klassenarbeiten oder Prüfungen sind solche Zeiten, in denen andere Dinge entbehrt werden müssen. Das heißt, bestimmte Handlungsimpulse müssen unterdrückt werden, um sich auf relevante Dinge zu konzentrieren. Diese Willenskraft wird als Fähigkeit zum Belohnungsaufschub bezeichnet. Sie ist bei Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Einer der zentralen, von außen steuerbaren Aspekte ist jedoch, den Sinn zu verdeutlichen, warum sie auf bestimmte, für den Moment angenehmere Dinge verzichten soll. Für Lehrkräfte heißt dies: Gerade diejenigen, die einen Aufschub der Belohnung nur schwer ertragen können, sollten eine besondere Sinngebung der Lerninhalte vermittelt bekommen.
Eine der wichtigsten Ursachen für schulische Misserfolge ist sicher die gelernte Hilflosigkeit. Diese besagt, dass Menschen, die einmal die Erfahrung gemacht haben, etwas nicht verändern zu können, diese Einstellung verinnerlichen und selbst dann anwenden, wenn sie gar nicht mehr zutrifft.
Ein weiteres wesentliches Problem ist: Kinder kennen ihre Motive oft nicht. Sie wissen nicht, was sie im Innersten antreibt. Dieser Zustand wird psychologisch als motivationale Inkompetenz bezeichnet. Schulisches Lernen, verstanden als eine Trias von Wissensvermittlung, Persönlichkeitsentwicklung und dem Lernen des Lernens, würde dies jedoch nicht zulassen, sondern selbstreflexive Elemente einbauen. In der Schule, die wir uns grundsätzlich als Ganztagsschule vorstellen, sollte es mehr Zeiten geben, die nicht der Stoffvermittlung dienen. Hier muss es zum Beispiel vielmehr um individuellen Dialog mit allen Schüler*innen gehen.
Ein weiterer Grund, der ebenso in die oben skizzierte Trias hineinspielt, sind mangelnde kognitive und metakognitive Strategien. Kognitive Strategien umfassen schlicht normale Mechanismen der Informationsverarbeitung. Metakognitive Strategien bezeichnen hingegen Lernstrategien, bei denen die eigenen Gedankenfolgen gesteuert werden sollen. Also Lernstrategien wie z. B. das Exzerpieren. Auch hier gilt: Die kognitiven und metakognitiven Lernstrategien sind so unterschiedlich wie die Schülerinnen und Schüler selbst. In Lernwerkstätten könnte dann zum Beispiel für alle Schüler eine individuelle Lernstrategie entwickelt werden. Mit dieser korreliert ist dann auch die individuelle Bezugsnorm beim Feedback und der Bewertung.
4. Die Lernmotivation steigern
Um die wissenschaftliche Methodik der Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern zu verstehen, gibt es verschiedene erwähnenswerte psychologische Theorien. Eine davon ist das erweiterte kognitive Motivationsmodell. Dieses unterscheidet die vier Stadien der Ausgangssituation, der Handlung, des Ergebnisses und der Ergebnisfolgen. Die Motivation zu Handeln ist gerade dann besonders ausgeprägt, wenn die Situations-Ergebnis-Erwartung gering ist. Das heißt, dass Schülerinnen und Schüler nicht davon ausgehen, ohne Anstrengung etwas bewirken zu können. Der zweite, relativ zentrale Punkt ist die Handlungs-Ergebnis-Erwartung, also die eigene Selbstwirksamkeitserwartung. Gerade hier unterscheiden sich die unterschiedlichen sozialen Schichten signifikant und muss Empowerment ansetzen. Denn gerade Schüler*innen, die sich oft ohnmächtig fühlten, haben eine gering ausgeprägte Selbstwirksamkeitserwartung.
Ebenfalls zu einer hohen Motivation trägt eine hohe Ergebnis-Folge-Erwartung bei. Hier geht es darum, ob sich positive Konsequenzen durch den Lernerfolg einstellen. Dabei geht es um etwas, was Schulen bisher oft sträflich vernachlässigen: Die Sinngebung des zu lernenden Inhalts. Warum ist es wichtig, den Dreisatz zu beherrschen? Warum ist es wichtig, die Photosynthese zu verstehen? Warum ist die Französische Revolution noch heute relevant? Genau durch diese anzustrebende stärkere Diskursorientierung des Sinns von Bildung ist dann aber auch ein tieferes Bildungsverständnis möglich.
5. Politische Schlussfolgerungen
Wir brauchen eine grundlegende Umgestaltung des Bildungswesens, welche vorhandenes psychologisches Wissen nutzt und anwendet. Die Art und die Zielstellung dieser Anwendung ist eine zutiefst politische Frage, die wir emanzipatorisch beantworten wollen. Schon in der Lehrer*innenausbildung muss es eine bessere Verzahnung diverser Disziplinen geben. Dabei darf die psychologische Ausbildung jedoch nicht so theoretisch bleiben, wie es derzeit an den Schulen geschieht. Eine gezielte und stärkere Förderung sozial Schwacher als Empowerment ist wünschenswert. Die Inklusion muss auch in Kita und Hort geschehen und sollte eine aktive Inklusion auch schwächerer Schüler*innen enthalten. Das Metaziel ist die Schaffung reeller statt theoretischer Chancengleichheit. Dazu bedarf es eines besseren Betreuungsschlüssels, gerade auch um die aufgezeigten individuellen Lernhindernisse abzubauen. Es darf keine weitere Verschulung von Kitas geben, sondern die Schule sollte gerade am Anfang spielerischer gestaltet werden. Denn nur so kann sich eine wahrhaft intrinsische Lernmotivation einstellen, die die Voraussetzung für unser Ziel ist: Das selbstbestimmte, emanzipatorische und lebenslange Lernen.
Jan Eckhoff, cand. Psych., Moritz Kirchner, Dipl. Psych.