Warum wählen Menschen gegen ihre eigenen Interessen?

Einleitung: Die paradoxe Veränderung des Wahlverhaltens

Viele der jüngsten Parlamentswahlen haben rechtspopulistische Parteien gestärkt (Guérot: 2016) und damit die politische Landkarte radikal verändert. Dabei sind nicht nur die massiven Zugewinne rechter Parteien bedenkenswert, sondern auch ihr konkretes Elektorat, welches objektiv nicht deren (sozioökonomische) Interessen teilt (vgl. Decker/Kiess/Eggers/Brähler: 2016). Egal ob bei der Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten, den Landtagswahlen in Deutschland oder den Wahlen zur US-Präsidentschaft: Es waren deutlich überproportional Arbeiterinnen und Arbeiter und in Teilen einkommensschwache Menschen, die populistische Parteien und Personen gewählt haben (vgl. Brumlik: 2017; Müller: 2016). Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die erklärte politische Programmatik dieser Parteien im Falle ihrer Umsetzung einen konkreten Schaden für abhängig Beschäftigte, aber auch einkommensschwache Menschen bedeutet.

Natürlich hat der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Politiker*innen mit der gesellschaftlichen Krisenwahrnahme insgesamt zu tun (Merkel: 2015). Die so genannte „Flüchtlingskrise“ hat wie ein Katalysator für Ressentiments und Frustrationsentladung gesorgt (Decker/Brähler: 2016). In Deutschland hat die AfD in es in besonderem Maße geschafft, niedere Gefühle und Instinkte für sich politisch nutzbar zu machen (vgl. Olschanski: 2016). Dennoch bleibt das politische Paradox, dass Menschen in erheblicher Zahl Fragen der Identität und Ethnizität für wichtiger hielten als zum Beispiel Fragen der sozialen Gerechtigkeit, was sich in der Wahl einer Partei ausdrückt, die außerhalb des bisherigen programmatischen Parteienspektrums der BRD steht (Lewandowski/Giebler/Wagner: 2016).

Objektive vs. Subjektive Interessen

Viele politische Theorien und Ansätze gehen aus verschiedenen Gründen davon aus, dass Menschen durch ihren politischen Wahlakt rational ihre eigenen Interessen verfolgen. Unter Interessen werden dabei klassischerweise soziale und ökonomische Interessen verstanden, die dem eigenen Aufstieg und Vorankommen dienlich sind, oder wenigstens ein gesellschaftliches Abrutschen verhindern (vgl. Koppetsch: 2015). Eine sehr prominente Theorie hierbei ist die rational choice Theorie (Downs: 1957). Diese besagt, dass Menschen in der Demokratie ganz rational diejenigen wählen, die gemäß ihrer Interessen den eigenen Nutzen maximieren. Aber auch marxistische Theoriebildung geht davon aus, dass der einzelne, vermittelt über seine gesellschaftliche Stellung, eine Verbesserung genau dieser anstrebt (vgl. Jaeggi/Loick: 2013). Es erscheint natürlich intutiv, dass Menschen vor allem diejenigen Personen und Parteien wählen, von denen sie sich eine Verbesserung ihrer Situation erhoffen. Dennoch ist das zu beobachtende Wahlverhalten offenkundig von deutlich mehr Gründen geprägt, ergo komplexer (vgl. Weßels: 2015).

Das immanente philosophisch-politische Problem der Herangehensweise, dass objektive Interessen sich direkt im Wahlverhalten manifestieren ist jedoch, dass es für die objektiven Interessen einer Person eine Außeninstanz geben muss, die im Prinzip über deren Interessen objektiver als die betreffende Person selbst Auskunft geben können müsste. Dies ist natürlich eine erkenntnistheoretische Anmaßung, die oft zu politischem Unverständnis führt (und geführt hat). Das markantere, praktisch-politische Problem dieser Herangehensweise ist, dass Interessen von Menschen sehr oft auf sozioökonomische Interessen reduziert werden. Hiermit steht schon in der Betrachtung der „eindimensionale Mensch“ (Herbert Marcuse) vor der Tür. Demgegenüber ist aber festzuhalten, dass es eine viel größere Vielfalt von Interessen gibt, gerade auch der arbeitenden Bevölkerung (Brumlik: 2017; Heyne: 2015). Diese Interessen lassen sich als subjektive Interessen kennzeichnen. Und leider lässt sich, gerade in jüngster Zeit, immer stärker feststellen, dass gerade das, was einst als Arbeiterklasse bezeichnet wurde (vgl. Marx: 1977; Marx: 1973) in besonderem Maße zu rechtspopulistischen Positionen neigt. Dies kann zum einen natürlich mit ihren Abstiegsängsten erklärt werden (Olschanski: 2016; Koppetsch: 2015). Zum anderen sind aber eben auch rassistische, xenophobe, völkische und intolerante Positionen, die auf die ethnische Schließung der offenen Gesellschaft abzielen, innerhalb der Arbeiterschaft, bei Berufstätigen und auch bei Gewerkschaftsmitgliedern überdurchschnittlich stark verbreitet (Decker/Kiess/Eggers/Brähler: 2016; Bednarz/Giesa: 2015). Daraus ergeben sich bestimmte subjektive Interessen, wie die Begrenzung der Einwanderung und die Negation des Status von Deutschland als Einwanderungsland (vgl. Yilmaz-Günay: 2013), die Forderung nach Begrenzung der Sozialleistungen für Nichtdeutsche (Alternative für Deutschland 2016: 62), die verstärkte Abschiebung, insbesondere krimineller Ausländerinnen und Ausländer und der Wunsch nach Stärkung der Nation gegenüber Prozessen der Globalisierung (vgl. Heyne: 2015). Wie aber kommt es dazu, dass Menschen solche subjektiven Interessen höher gewichten als ihre objektiven sozioökonomischen Interessen?

Die Bedeutung von Werten

Diese Frage kann ganz wesentlich als eine Frage von Werten angesehen werden. Denn nicht alle abstiegsbedrohten Menschen oder als solche bezeichnete „Modernisierungsverlierer“ neigen zu populistischen Positionen (Müller: 2016). Was sich jedoch zeigen lässt, sind Zusammenhänge zwischen bestimmten Persönlichkeitseigenschaften und politischen Einstellungen (Lakoff: 2014; Stenner: 2005). So neigen Menschen, die eine hohe Offenheit für neue Erfahrung haben, eher zu progressiven politischen Positionen, während sehr gewissenhafte Menschen eher konservative Positionen vertreten (vgl. Lönnqvist/Itkonen: 2016). Noch wichtiger als Persönlichkeitseigenschaften ist jedoch das persönliche Wertesystem für die Ausbildung bestimmter politischer Haltungen.

Es lässt sich, sofern das Links-Rechts-Schema (bzw. das Progressiv-Konservativ-Schema) als valide angenommen wird (vgl. Lewandowsky/Giebler/Wagner: 2016), immer wieder feststellen, dass es Menschen gibt, deren Wertesystem relativ klar an einem der beiden Enden dieses bipolaren Kontinuums verortet wird. Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass die Menschen nicht einfach nur in der Mitte dieses Kontinuums sind, sondern dass ein relevanter Anteil deswegen innerhalb dieser Achse mittig positioniert ist, weil beide Werthaltungen vertreten sind (Haidt: 2012). Ein erheblicher Anteil Menschen trägt in sich also sowohl fortschrittliche als auch konservative oder gar reaktionäre Werthaltungen (Lakoff: 2014). Das Paradebeispiel hierfür kann ein engagierter Betriebsrat sein, der sich gegenüber dem Arbeitgeber sehr für seine Kolleginnen und Kollegen einsetzt, aus sozialer Abstiegsangst (und möglicherweise latenter bis manifester Fremdenfeindlichkeit) aber die Zuwanderung begrenzen will. Dadurch, dass es aber diese unterschiedlichen, auf der Links-Rechts-Achse (vgl. Volkens/Merz: 2015) teils divergierenden Interessen innerhalb einer Person bzw. ihrem Wertesystem gibt, kann nicht klar gesagt werden, dass die Person gegen ihre Interessen wählt und handelt. Dies lässt sich vielleicht von einem Teil der Interessen von Personen sagen.

Das Problem der „klassenspezifischen Wahlabstinenz“

Jedoch geht es nicht nur um Handlungen oder Wahlverhalten, welches ureigenen Interessen zuwiderläuft. Sondern ein weiteres Problem ist, dass viele Menschen ihre eigenen Interessen nicht vertreten, z. B. indem sie nicht zur Wahl gehen. Soziologisch wird dieses Phänomen als „klassenspezifische Wahlabstinenz“ bezeichnet (Hadjar/Köthemann: 2014). Empirisch lässt sich immer wieder feststellen, dass insbesondere einkommensschwache und bildungsferne Menschen sich deutlich unterproportional an Wahlen beteiligen (Kocka/Merkel: 2015; Merkel/Krause: 2015; Weßels, 2015), und somit durch die Nichtwahl eine Wahl treffen, welche schon die Möglichkeit der Realisierung ihrer Interessen unwahrscheinlicher macht.

Die besondere Schwierigkeit liegt nun darin, dass es rechtspopulistischen Parteien gut gelingt, aus dem Lager der bisherigen Nichtwähler neue Anhänger*innen zu rekrutieren. Apathie, Frustration oder andere Gefühle, die zur bisherigen Wahlabstinenz führten, werden aufgegriffen und artikuliert, mit klaren Feindbildern gearbeitet (z. B. die Geflüchteten) und ein Kümmern um diese Probleme in Aussicht gestellt. Daraus ergeben sich vielfältige Herausforderungen, denn die Rechtspopulist*innen sorgen dafür, dass es wieder klare politische Gegensätze gibt und über Grundsatzfragen diskutiert wird. Sie haben die entpolitisierte Postdemokratie (Crouch: 2008) beendet, sofern es diese überhaupt je gegeben hat. Die Wahlabstinenz insbesondere einkommensschwacher Menschen ist gerade für linke Parteien ein besonderes Problem, da diese Menschen relevante Teile von deren potenzieller Wähler*innenschaft darstellen (Dallinger/Fückel: 2014).

Politische Ungleichheit

Die Demokratie, insbesondere die repräsentative Demokratie, baut in ihrem Selbstverständnis auf der Gleichheit aller beteiligten Bürger*innen auf (Schmidt: 2010). Dieses Prinzip der politischen Gleichheit wurde historisch erkämpft, sei es durch die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, sei es durch die Einführung des Frauenwahlrechts 1918 oder die jetzigen Kämpfe um ein Wahlrecht für Migrantinnen und Migranten.

Das Problem ist jedoch, dass es zwar eine formale politische Gleichheit gibt, aber keine reale (Lehmann/Regel/Schlote: 2015). Dies macht sich vor allem daran fest, dass den Interessen und Bedürfnissen der gutsituierten Bürgerinnen und Bürger offenkundig mehr Gehör seitens der politischen Parteien und Repräsentanten geschenkt wird (Petring: 2015). Dies rührt daher, dass Parlamentarierinnen und Parlamentarier selbst eher der Mittel- bzw. Oberschicht angehören, sowie aus dem Wissen der Parteien, dass insbesondere Menschen der Mittel- und Oberschicht sich stärker an Wahlen beteiligen und diese daher nicht verprellt werden dürfen. Daraus resultiert aber, dass die geringe Wahlbeteiligung Einkommensschwacher zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird, da die Parteien dann wirklich kaum noch auf sie hören, weil sie diese vor dem Hintergrund ihres Ziels der Stimmenmaximierung nicht ernst nehmen.

Was tun?

Das Wesentliche ist wohl, die Komplexität politischen Denkens und Handelns im Auge zu haben. Gerade die verschiedenen Werte, die Menschen in sich tragen (Haidt: 2012), sollten umfassend angesprochen und sprachlich bedient werden. Eine politische Sprache, die anschaulich ist, an der Lebenswirklichkeit der Menschen orientiert ist und die auch bewusst Emotionen weckt (vgl. Nussbaum: 2014), ist ein erster Schritt, um interessendiskrepantes Nichtwählen zu verhindern und Rechtspopulist*innen das Wasser abzugraben. Den Menschen ist mit einer respektvollen und offenen Haltung zu begegnen, auch wenn einige ihrer Positionen einem selbst nicht gefallen. Die Grenze liegt erst bei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Decker/Kiess/Brähler: 2016). Wir müssen raus aus der eigenen gedanklichen Filterblase und wieder stärker in den Dialog mit den Menschen treten. Ob im Verein, auf der Strasse, am Infostand oder vor der Haustür.

Es ist vollkommen richtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Forderungen insbesondere rechtspopulistischer Parteien deren eigenem Elektorat zuwiderlaufen. Dennoch müssen auch Werte wie Sicherheit und Ordnung Teil der linken Ansprache werden, da diese einkommensschwachen Menschen häufig noch wichtiger sind als sozioökonomische Fragen. Ja, deshalb dürfen wir auch als Linke mehr Polizei fordern. Das wichtigste aber dürfte sein: Wir müssen uns zumindest von dem Erbe des Marxismus lösen, dass Dinge monokausal mit ökonomischen Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten erklärbar sind. Die Welt ist bunter, und die Interessen der Menschen sind es auch. Malen wir Gemälde, die ihnen gefallen, und nicht nur uns.