DIE LINKE 2017-2021: Inhaltliche Herausforderungen und strategische Ziele

von Dr. Moritz Kirchner, Landessprecher des fds Brandenburg

Nach der Bundestagswahl: Postpubertäre Personaldebatten statt interessanter Inhalte

Die Bundestagswahl hat für die Partei DIE LINKE ein achtbares Ergebnis gebracht, immerhin das zweitbeste ihrer Geschichte, was angesichts des gesamtgesellschaftlich zu konstatierenden Rechtsrucks (Brähler/Kiess/Decker: 2016; Bednarz/Giesa: 2015) ein durchaus bemerkenswertes Ergebnis ist. Natürlich ist es auch Ausdruck der gesellschaftlichen Polarisierung, die auch ein Lager der Solidarität hat entstehen lassen (vgl. Kipping: 2016), von dem DIE LINKE in Teilen an der Wahlurne profitieren konnte.

Was danach folgte, entsprach jedoch ganz sicher nicht dem Willen der etwa 5,6 Millionen Wählerinnen und Wähler der Partei: Personaldebatten, Stellungskriege in der Fraktion, Befindlichkeitsexegesen und Rücktrittsdrohungen. Es war wenig zu sehen davon, Politik zu wagen (vgl. Boeser-Schnebel/Hufer/Schnebel Karin/Wenzel: 2016) oder Sachinhalte voranzubringen. Das aber muss sich schnellstmöglich ändern, denn die inhaltlichen Aufgaben für linke Politik, aber auch ihre strategischen Herausforderungen sind mehr geworden.

Politische Fragen, die nach einer linken Antwort verlangen

Diese inhaltlichen Aufgaben lassen sich anhand verschiedener Fragen, welche eine zunehmend komplexe Gesellschaft aufwirft (Mau: 2017), ordnen. Hiervon sollen drei Fragen konkret herausgegriffen werden:

  • Wie kann dem gesellschaftlichen Rechtsruck eine konkrete Idee einer solidarischen, offenen und inklusiven Gesellschaft entgegensetzt werden?
  • Wie kann in einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt Selbstbestimmung und betriebliche Mitbestimmung nicht nur erhalten, sondern im optimalen Falle noch ausgebaut werden?
  • Wie können die sozialstaatlichen Errungenschaften, insbesondere die gesetzliche Rente, zukunftsfest gemacht werden?
Rechtsruck vs. Idee einer solidarischen, offenen und inklusiven Gesellschaft

Linke Politik heißt ganz wesentlich, dass Menschen unterstützt und ermutigt werden und in die Gesellschaft nicht nur integriert, sondern auch inkludiert werden (Lakoff: 2014). Die politische Rechte hingegen verfolgt das Konzept einer loyalen, an Regeln und Autoritäten orientierten exklusiven Gesellschaft (Stenner: 2005). Genau deshalb war der temporäre Kontrollverlust an den Außengrenzen 2015 auch ein derartiger Katalysator für das Erstarken der so genannten Alternative für Deutschland. Die Frage, ob wir in einer inklusiven oder einer exklusiven Gesellschaft leben wollen uns sollen, ist also eine klare Trennlinie zwischen progressiver und konservativer Politik (vgl. Haidt: 2012), zwischen Links und Rechts (vgl. Lewandowsky/Giebler/Wagner: 2016).

Die Migrationspolitiken der AfD und der CSU zielen klar auf Abschottung, diejenigen der Grünen, der Union und der FDP tun dies zunehmend. Merkels Rhetorik der Willkommenskultur wurde politisch sehr schnell konterkariert durch die Asylpakete I und II und insbesondere den EU-Türkei-Deal (Gottschlich: 2016). Auf der anderen Seite gab es bei den Grünen sehr intensive Debatten um die Zustimmung zur Ausweisung sicherer Herkunftsländer im Bundesrat, welche die Unterscheidung zwischen dem Realo-Kretschmann-Flügel und der Parteilinken aufzeigte. In der LINKEN gab es ebenfalls intensive Debatten, insbesondere um die Äußerungen des Duos Wagenknecht und Lafontaine. Dennoch wurde im Bundestag geschlossen gegen alle Verschärfungen gestimmt.

Es ist innerhalb der Jamaika-Koalition zu erwarten, dass nun ein Einwanderungsgesetz vorgelegt werden wird, nachdem sich die Union über ein Jahrzehnt erfolgreich dagegen sperrte, genau wie gegen die Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist (vgl. Ohlendorf: 2016).

Für die politische Linke ist klar, dass sie erstens moralisch ein Recht auf Migration und Bewegungsfreiheit befürwortet und somit natürlich auch klar zum Asylrecht. Dennoch muss sie konstatieren, dass die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung (siehe Wahlergebnis der AfD; Decker/Brähler: 2016) Grenzen hat, und dass es auch zu tatsächlichen strukturellen Überforderungen 2015ff kam, dass in der Bevölkerung das Sicherheitsempfinden abgenommen hat durch den Zuzug Geflüchteter, und dass Geflüchtete auch Menschen mit allen Stärken und Schwächen sind, und dementsprechend eine Romantisierung der Refugees fehl am Platz ist. Daraus ergeben sich Leitlinien für ein linkes Einwanderungsgesetz, welches am besten vor dem Gesetzesentwurf von Jamaika einzubringen ist:

  • Uneingeschränkte Geltung des Rechtes auf Asyl
  • Ablehnung einer statischen Obergrenze
  • Klar definierte Asylgründe, die implizieren, dass es kein Recht auf Asyl gibt, wenn diese klar definierten Asylgründe nicht erfüllt sind
  • Schaffung sicherer Fluchtwege, z. B. durch die Möglichkeit, Asylanträge in deutschen Botschaften stellen zu können (die dann mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) kooperieren)
  • Recht auf Familiennachzug bereits in Deutschland befindlicher Geflüchteter
  • Ausweitung der Sprachkurse und Integrationsangebote, die als verpflichtend angesehen werden
  • Uneingeschränktes Zuzugsrecht für alle EU-Bürger*innen gemäß der Grundfreiheiten
  • Bewerbungsmodell für die dauerhafte Einwanderung von Bürger*innen anderer Länder, die kein Asyl ersuchen, welches sowohl die Triftigkeit des Umzugswunsches sowie die familiäre Situation als auch den Arbeitsstatus überprüft
  • Schaffung weiterer Blue Cards für Fachkräfte in Branchen, in denen jetzt der Mangel verstärkt wird (z. B. Pfleger*innen)
Selbst- und Mitbestimmung in einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt

Dass die Arbeitswelt sich immer weiter digitalisiert, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz (vgl. Kirchner: 2015; Brynjolfsson/McAfee: 2014). Die Auswirkungen werden in immer mehr Branchen und an immer mehr Arbeitsplätzen spürbar. Zusammen mit der Digitalisierung findet auch eine immer umfassende Automatisierung statt. Dies geht mittlerweile sogar so weit, dass es Computerprogramme gibt, die Psychotherapien ermöglichen sollen.

Die neue Art der vernetzten Produktion, die zunehmend in cyber-physischen Systeme stattfindet, nennt sich Industrie 4.0. Diese zeichnet sich insbesondere durch eine gestiegene Komplexität, erhöhte Flexibilitätsanforderungen und eine zunehmende Individualisierung der Produktion aus (Hirsch-Kreiensen: 2014). Was sich in diesem Kontext insgesamt konstatieren lässt, ist die zunehmende Spaltung der Löhne, Arbeitsbedingungen und Chancen der persönlichen Weiterentwicklung zwischen hoch qualifizierten Arbeitskräften einerseits und Geringverdienenden und wenig qualifizierten auf der anderen Seite, welche dann auch noch durch staatliche Aktivierungsprogramme zunehmend drangsaliert werden (vgl. Böhnke/Zeh/Link: 2015; Dallinger/Fückel: 2014). Insgesamt ist zu konstatieren, dass neben der klassischen sozialen Schere der Einkommen und insbesondere der Vermögen (Piketty: 2015) zunehmend auch eine Schere der Lebens- und Arbeitsmarktchancen auftut, da denjenigen, die eh schon über gute Ressourcen verfügen, mehr gegeben wird (Work-Life-Balance, Weiterbildungen, Mitbestimmungsrechte etc.) als denjenigen, die working poor oder prekarisiert tätig sind (Boltanski/Chiapello: 2006; Lorey: 2003). Hier muss linke Politik, müssen aber auch die Gewerkschaften klar gegensteuern und solidarische Kollektivlösungen anbieten. Daher wird vorgeschlagen:

  • Schaffung virtueller Betriebsräte in Start-ups und Formen, welche überwiegend vernetzt und delokalisiert arbeiten
  • Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes, um die neuen Arbeitsformen (Clickworking, serielle Werkverträge etc.) endlich auch juridisch angemessen zu erfassen
  • Einführung des Arbeitslosengeldes Q gemäß den Vorschlägen von Martin Schulz
  • Erweiterung der Aufsichtsräte um relevante Stakeholder (Umweltschutzorganisationen, Verbraucherschutz, Zulieferer, Kund*innen), und damit Durchbrechung der Mehrheit der Arbeitgeberseite
  • Equal Pay und komplett gleiche Rechte für alle Beschäftigten eines Unternehmens, egal in welcher Form sie an ein Unternehmen gebunden sind
  • Kündigungsschutz für Compliance-Beauftragte, analog zu Betriebsräten
  • Qualifizierungsoffensive Digitalisierung für Betriebsräte, in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit, beginnend ab den Betriebsratswahlen 2018
Wie können die sozialstaatlichen Errungenschaften (insbesondere die Rente) zukunftsfest gemacht werden?

Der Sozialstaat existiert in Deutschland bereits seit dem Kaiserreich bzw. der Regentschaft Bismarcks, und er kann als ein Erfolgsmodell mit globaler Ausstrahlung bezeichnet werden (vgl. Winkler: 2009).

Jedoch hat sich im Zuge der zunehmenden Erosion des Sozialen innerhalb der sozialen Marktwirtschaft (vgl. Kohlmann: 2015) auch die konkrete Gestaltung der Sozialstaatlichkeit gewandelt. Was wir in immer stärkerem Maße konstatieren müssen, ist der Umbau der kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten in mehr angelsächsich geprägte, aktivierende Modelle (Seeleib-Kaiser: 2014). Hinzu kommt, dass es immer weniger um die soziale Absicherung geht, sondern um die Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit, der Employability (Clasen/Clegg: 2014). Die geschieht wesentlich durch die Stärkung von Aktivierungsmodellen, die gemäß dem neoliberalen Credo auf mehr Eigenverantwortung abzielen (vgl. Lessenich: 2009). Der wesentliche Ausdruck dessen waren die Hartz-Reformen (Dörre: 2013), welche einerseits mehr Beschäftigung brachten, aber diese war häufig atypisch und die soziale Schere ging immer weiter auseinander.

Es muss also darum gehen, den Sozialstaat zukunftsfest zu machen und an die veränderten demografischen Bedingungen sowie Veränderungen des Arbeitsmarktes anzupassen:

  • Statt eines starren Renteneintrittsalters sollte es eine Lebensarbeitszeitrente geben, die z. B. nach 40 Jahren nach Beginn des Berufseinstiegs gewährt werden kann
  • Sowohl für Leiharbeit als auch für Werkverträge muss das Prinzip der gleichen Bezahlung (Equal Pay) gelten
  • Um mehr Lohngerechtigkeit sowie Gerechtigkeit der Eingruppierungen sowie Geschlechtergerechtigkeit bei der Bezahlung herzustellen, müssen Löhne in Firmen einsehbar sein, z. B. im Intranet
  • Für die Wochenarbeitszeit sollten, gemäß den aktuellen Forderungen der IG Metall, mehr Korridore für eine selbstbestimmte Wochenarbeitszeit möglich sein
  • Selbständige sollen, nach Maßgabe ihrer finanziellen Möglichkeiten (und zur Not mit staatlicher Aufstockung) in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen
  • Die Bürger*innenversicherung muss endlich Realität werden; nur Zusatzleistungen sind noch privat nutzbar
  • Leiharbeit ist streng zu begrenzen, ebenso die atypische Beschäftigung – Der Bund mit seiner hervorragenden Bonität soll einen Rentenfonds auflegen, in den alle mit kleinsten Beträgen einzahlen können
  • Tarifverträge sollen leichter allgemeinverbindlich erklärt werden
  • Innerhalb der Bundesagentur für Arbeit sollten gehaltswirksame Prämien eingeführt werden für diejenigen, die Langzeitarbeitslose und Geflüchtete dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt integrieren können
  • Modelle für flexible Betriebsrenten, die auch bei Arbeitsplatzwechsel weiterlaufen, müssen gefunden werden

Dies alles wären aus meiner Sicht konkrete Themen und Politikansätze, denen sich die neue Bundestagsfraktion widmen sollte, statt selbstreferenziellen Personaldebatten.

Literatur:

Bednarz, Liane/Giesa, Frank (2015). Gefährliche Bürger. Die neue Rechte greift nach der Mitte. München: Hanser Verlag.

Böhnke, Petra/Zeh, Janina/Link, Sebastian (2015). Atypische Beschäftigung im Erwerbsverlauf – Verlaufstypen als Ausdruck sozialer Spaltung? Zeitschrift für Soziologie, 44, S. 234-252.

Boeser-Schnebel, Christian/Hufer Klaus-Peter Schnebel Karin/Wenzel Florian (2016). Politik wagen. Ein Argumentationstraining. Schwalbach: Wochenschau Verlag).

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve (2006). Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Verlag.

Brähler, Elmar/Kiess, Johannes/Decker, Oliver (2016). Politische Einstellungen und Parteipräferenz: Die Wähler/innen, Unentschiedende und Nichtwähler/innen 2016. In Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hrsg.). Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. S. 67-94.

Brynjolfsson, Erik/McAfee, Andrew (2014). The second machine age. Work, Progress and Technology in a time of brilliant technologies. New York: Norton.

Clasen, Jochen/Clegg, Daniel (2014). Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit – auf dem Weg in den Dualismus? Die Hartz-Reformen in historisch-komparativer Perspektive. WSI Mitteilungen, 3, S. 192-199.

Dallinger, Ursula/Fückel, Sebastian (2014). Politische Grundlagen und Folgen von Dualisierungsprozessen: Eine politische Ökonomie der Hartz-Reformen. WSI Mitteilungen, 3, S. 182-191.

Decker, Oliver/Brähler, Elmar (2016). Autoritäre Dynamiken: Ergebnisse der bisherigen „Mitte“ Studien und Fragestellung. In Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hrsg.). Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. S. 11-21.

Dörre, Klaus (2013). Das neue Elend: Zehn Jahre Hartz-Reformen. Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, S. 99-108.

Gottschlich, Jürgen (2016). Türkei: Merkels schmutziger Deal. Blätter für deutsche und internationale Politik, 5, S. 9-12.

Haidt, Jonathan (2012). The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. New York: Basic Books.

Hirsch-Kreinsen, Hartmut (2014). Wandel von Produktionsarbeit. „Industrie 4.0“. WSI Mitteilungen, 6, S. 421-430.

Kipping, Katja (2016). Wer flüchtet schon freiwillig? Die Verantwortung des Westens oder warum sich die Gesellschaft neu erfinden muss. Frankfurt: Westend Verlag.

Kirchner, Stefan (2015). Konturen der digitalen Arbeitswelt. Eine Untersuchung der Einflussfaktoren beruflicher Computer- und Internetnutzung und der Zusammenhänge zu Arbeitsqualität. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 67, S. 763-791.

Kohlmann, Sebastian (2015). „Es gibt kein besseres System als die soziale Marktwirtschaft“. Der Blick des Unternehmens ins Ausland. In Walter, Franz/Marg, Stine (Hrsg.). Sprachlose Elite? Wie Unternehmer Politik und Gesellschaft sehen. Hamburg: Rowohlt.

Lakoff, George (2014). The all new don´t think of an elephant. Know your values and frame the debate.

Lewandowsky, Marcel/Giebler, Heiko/Wagner, Aiko (2016). Rechtspopulismus in Deutschland. Eine empirische Einordnung der Parteien zur Bundestagswahl 2013 unter besonderer Berücksichtigung der AfD. Politische Vierteljahresschrift, 2, S. 247-285.

Lorey, Isabell (2013). Das Regime der Prekarisierung. Blätter für deutsche und internationale Politik, 6, S. 91-100.

Mau, Steffen (2017). Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Edition Suhrkamp.

Ohlendorf, David (2016). Die Entstehung interethnischer Kontakte von Neuzuwanderern aus Polen und der Türkei in Deutschland – eine Frage der Religion? Zeitschrift für Soziologie, S. 348-365.

Piketty, Thomas (2015). Capital in the 21st Century. London: Harvard University Press.

Seeleib-Kaiser, Martin (2014). Wohlfahrtssysteme in Europa und den USA: Annäherung des konservativen deutschen Modells an das amerikanische? WSI Mitteilungen, 4, S. 267-276.

Stenner, Karin (2005). The authoritarian dynamic. Cambridge: Cambridge University Press.

Winkler, Heinrich August (2009). Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München: Beck.