Gedanken zur geplanten linken Sammlungsbewegung
von Dr. des. Moritz Kirchner, Dipl. Psych., Landessprecher des fds Brandenburg
Einführung: Eine duale Kopfgeburt
Seit einiger Zeit wabert das Konstrukt einer linken Sammlungsbewegung durch die politische Landschaft Deutschlands. Insbesondere in der politischen Linken sorgt es für Neugier, Irritation, Ängste und Verunsicherung. Dazu trägt nicht unwesentlich bei, dass der Charakter dieser Sammlungsbewegung immer noch unklar erscheint, und dass jetzt via Internet nach einem Namen dieser Sammlungsbewegung gesucht wird, zeigt, dass diese immer noch mehr Suchbewegung als Sammlungsbewegung ist.
Die wesentlichen Protagonist*innen dieser Sammlungsbewegung sind Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine. Beide sind herausragende Funktionär*innen der Partei DIE LINKE, Sahra Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Oskar Lafontaine als Fraktionsvorsitzender der saarländischen Landtagsfraktion sowie als ehemaliger Parteivorsitzender, aber auch als ein entscheidender Protagonist des Zusammengehens von PDS und WASG. Daraus ergibt sich, dass beide qua politischer Sozialisation und Repräsentation klar Parteipolitiker*innen sind. Zwar machen sie sich politisch und diskursiv immer wieder für ein Zusammenspiel linker Politik und sozialer Bewegungen stark, aber sie können kaum als Repräsentant*innen letzterer gelten. Es gab und gibt, mit der Ausnahme von Rudolf Dreßler (welcher seinen politischen Zenit bereits hinter sich hat) kaum jemanden, der sich explizit dazu bekennt und wo eine Mitinitiierung bekannt ist. Daher kann die Idee einer linken Sammlungsbewegung in ihrem Ursprung als eine duale Kopfgeburt gelten.
Beide zeigen in ihren Äußerungen aber auch immer wieder auf, dass die Links-Rechts-Achse nicht die einzige Beschreibungsoption heutiger Politik ist (vgl. Volkens/Merz 2015). Sei es Lafontaines damalige Zustimmung zum Asylkompromiss (Decker/Brähler 2016: 14), seien es Wagenknechts Einlassungen zum Gastrecht, welche besondere politisch-kommunikative Anschlussfähigkeit an nationalistische Politik haben, aber sei es auch ihr Insistieren auf dem Nationalstaat als relevantem handlungsfähigen Akteur und potenzieller Schutzmacht gegen den Neoliberalismus (vgl. Streeck: 2013): In bestimmten Hinsichten ist das Politikverständnis nicht internationalistisch, nicht libertär im Sinne der Freiheit der Lebensgestaltung, oder kurzum: nicht links.
Gründe für eine starke Linke gibt es wahrlich genug
Natürlich zeitigt eine Betrachtung der derzeitigen Welt mehr als genügend Gründe, warum es einer starken Linken bedarf. Und es wird auch zurecht konstatiert, dass die parteipolitische Linke daraus insgesamt zu wenig politisches Kapital schlägt (vgl. von Lucke 2015.
Die soziale Frage ist der Ausgangspunkt linker Politik, und es zeigen sich, gerade im globalen Maßstab, immer neue Exzesse sozialer Ungleichheit (vgl. Piketty 2014; Wehler 2013). Die Digitalisierung sorgt, sofern sie nicht sinnvoll reguliert wird, für ein noch weiteres Auseinanderdriften von Einkommen, Vermögen, Lebenschancen und Lebensqualität (vgl. Yogeshwar 2017; Brynjolfsson/McAfee 2014). Die Arbeitswelt verheißt trotz des vielfältigen technischen Fortschrittes nicht mehr Erleichterung und Selbstverwirklichung (vgl. Boltanski/Chiapello 2006), sondern vielmehr Kontrolle und Arbeitsintensivierung, insbesondere durch die neuen Informationstechnologien (vgl. Mau 2017). Die fremdbestimmte Prekarisierung macht selbstbestimmte Lebensentwürfe immer schwerer (vgl. Lorey 2013). Banken, welche verheerende Risiken eingingen und statt ihrer Kernaufgabe, der Geldversorgung der Volkswirtschaft nachzukommen, in hohem Maße spekulierten (vgl. Stiglitz 2010) werden gerettet, aber die Staaten Südeuropas werden mit einer harten Austeritätspolitik versehen (Mason 2016: 11; Merkel 2015: 20; Zinn 2012: 46). Insbesondere dadurch ist die Jugendarbeitslosigkeit noch weiter gestiegen, eine ökonomisch verlorene Generation wächst heran.
Die Klimakrise schreitet unterdessen unaufhaltsam voran (vgl. Klein 2015), und das Abkommen von Paris kommt entweder nur langsam zur Umsetzung oder es wurde sogar, wie von den USA, gekündigt. In der internationalen Politik haben autoritäre Staaten geopolitischen Aufwind (vgl. Kagan 2015) und die Gefahr einer demokratischen Rezession im globalen Maßstab erscheint zunehmend real (vgl. Diamond 2015). Gerade die politische Linke sollte jedoch, gerade auch als historische Lehre, die Demokratie bewahren, ja sie verteidigen. Demokratie und Sozialismus sind untrennbar (Bernstein 1988: 124). Die Aufgabe der politischen Linken besteht sogar vielmehr in der weiteren Demokratisierung der Demokratie (vgl. Wawzyniak 2015).
Der Rechtspopulismus ist weltweit auf dem Vormarsch. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich zunehmend (vgl. Bednarz/Giesa 2015). Auch in die Demokratien sickert zunehmend das Gift autoritärer und demagogischer Politik. Die Sprache verroht, und Menschenverachtung nimmt wieder zu (vgl. Ötsch/Horaczek 2017). In der Flüchtlingspolitik wurde ein Paradigmenwechsel weg von der Willkommenskultur hin zur Abschottungspolitik vollzogen. Die „Festung Europa“ ist nicht nur für politisch interessierte Kräfte zur Verheißung geworden (von Lucke 2015: 46), nein sie wird zunehmend Realität. Die CSU ist in ihrem durchsichtigen Versuch, die bayerische Landtagswahl durch einen Rechtsschwenk zu retten (Hebel 2017: 82), fast genauso zum Original geworden wie die ÖVP in Österreich die FPÖ nicht nur kopiert, sondern partiell sogar übertroffen hat.
Diejenigen, die eine linke Umverteilungspolitik benötigen, gehen immer weniger zur Wahl, es kommt zunehmend zu einer „klassenspezifischen Wahlabstinenz“ (vgl. Hadjar/Köthemann 2014). In der Folge profitieren insbesondere konservative und neoliberale Parteien (Brunkhorst 2016: 75) und immer mehr Menschen erfahren eine mangelhafte politische Resonanz (vgl. Rosa 2016), welche die Politikverdrossenheit nur immer weiter befeuert (Sandel 2015: 7).
Die Rechte von Minderheiten werden in immer mehr Ländern immer fragiler. Gerade in autoritären Staaten wie Russland, der Türkei und China wird die Zivilgesellschaft zunehmend drangsaliert und marginalisiert (vgl. Illouz 2017). Sowohl in der Geschlechterpolitik als auch bezüglich der Rechte von LBGTIQ ist ein gesellschaftlicher Rollback teilweise spürbar, der wesentlich von rechtspopulistischen Kräften und Parteien forciert wird (Lewandowsky/Giebler/Wagner 2016: 252; Decker/Brähler 2016: 16f). Kurzum: Gründe für eine starke Linke gibt es mehr als genug.
Es herrscht jedoch das Paradox vor, dass es jeden Tag mehr Gründe für eine starke politische Linke gibt, aber scheinbar ebenso jeden Tag weniger politische Wirkmächtigkeit. Die Frage ist jedoch, ob eine neue linke Sammlungsbewegung die Antwort auf dieses Paradoxon ist.
Das fehlende Kontingenzbewusstsein beim Blick über den Tellerrand
Die Notwendigkeit einer linken Sammlungsbewegung als Extension der Kräfte der politischen Linken wird insbesondere mit den erfolgreichen politischen Bewegungen in anderen europäischen Ländern begründet. In der Tat sind sowohl Emmanuel Macrons La République en Marche („Die Republik in Bewegung“) als auch Jean-Luc Melenchons La France Insoumise („Das unbeugbare Frankreich“), Podemos („Wir können“) in Spanien, Cinque Stelle („Fünf Sterne“) in Italien als letztendlich auch Syriza in Griechenland Exempel für erfolgreiche politische Bewegungen. Syriza und La République en Marche waren sogar so erfolgreich, dass sie die stärkste politische Kraft wurden und Regierungsverantwortung erlangten. Insbesondere La France Insoumise wird häufig als Vorbild einer linken Sammlungsbewegung angeführt.
Das Problem bei all diesen politischen Analogien ist das fehlende Kontingenzbewusstsein, das heißt die Beachtung der jeweiligen politischen Systeme und ihrer entsprechenden Spezifika, die solche Bewegungen erfolgreich machten. Diese Gelingensfaktoren lassen sich jedoch nicht einfach deterministisch auf andere Länder übertragen. Hinzu kommt ebenso, dass jede dieser Bewegungen eigene Charakteristika hat, die mit zu bedenken und zu beachten sind.
Beginnen wir mit La France Insoumise. Diese Bewegung hat in der Tat ein beachtliches Wahlergebnis im ersten Wahlgang realisiert. Dieses war jedoch dadurch möglich, dass sich die klassische linke politische Kraft in Frankreich, die Parti Socialiste (PS), während der Präsidentschaft von Francois Hollande komplett politisch und moralisch diskreditiert hat. Gerade diejenigen, die Hollande wegen seiner dezidiert linken Versprechen gewählt haben, waren natürlich enttäuscht und einsammelbar. Das linke Elektorat der Sozialdemokratie in Deutschland war hingegen schon wesentlich nach der Agenda 2010 hinfort (vgl. Dörre 2013), spätestens jedoch mit dem wiederholten Eintritt in eine große Koalition hat die SPD ihre Wählerinnen und Wähler bereits eingebüßt. Hinzu kommt, dass es in Frankreich eine enorme Politisierung gegeben hat durch den drohenden Wahlsieg des Front National mit Marine Le Pen, die dann natürlich auch politische Gegenkräfte freisetzte. Hinzu kommt, dass der Erfolg von La France Insoumise ungleich bescheidener wirkt, wenn demgegenüber die Atomisierung der Parti Socialiste festzustellen ist. Auch die einst stolze und starke Parti Communiste Francaise, die einst ein relevanter Faktor der französischen Politik war (Priestland 2009), ist jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst (Boltanski/Chiapello 2006: 242). Schon daran zeigt sich, dass linke Sammlungsbewegungen linke Parteien erodieren können.
Auch der temporäre Erfolg von Podemos entstand unter konkreten, aber eben auch kontingenten Voraussetzungen. Podemos, welches als Bewegung durchaus als linkspopulistisch eingestuft werden kann (Müller 2016: 10), hatte als einen Ausgangspunkt den Niedergang der Volksparteien, des klassischen spanischen Zweiparteiensystems, bestehend aus der konservativen Partido Popular („Volkspartei“) und der sozialdemokratischen Partido de Obreros de Espana („Spanische Arbeiterpartei“). Nach der Regentschaft des sozialdemokratischen Präsidenten Zapatero, der insbesondere über die Immobilienkrise steuerte, kam es zu einer langen Regentschaft der Partido Popular unter Mariano Rajoy. Diese hat erstens nie mit dem Franquismus wirklich gebrochen und ist zweitens wesentlich eine Honoratiorenpartei älterer Herren, sie ist aber drittens in massive Korruptionsskandale, insbesondere im Kontext der „Opéracion Gürtel“ verstrickt, was den Wunsch nach einem echten Neuanfang vollkommen verständlich machte. Weil dieser so groß war, entstand neben dem linken Podemos als bürgerliche Alternative eben auch Ciudadanos („Bürger“) und das klassische spanische Zweiparteiensystem transformierte sich in ein Vierparteiensystem. Hinzu kommt die völlig verständliche Frustration angesichts der unfassbaren Jugendarbeitslosigkeit und dem Verlust von Selbstwirksamkeit, da es angesichts der ökonomischen Misere bei vielen das Gefühl gibt, aus eigenem Antrieb heraus nichts verändern zu können. Vergleichbare Transformationen des Parteiensystems, eine derart hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine derartige moralische und juridische Korruption der Regierungspartei aber hat es in Deutschland nicht gegeben. Ergo ist auch Podemos ein spanisches Spezifikum.
Die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien ist wesentlich das Produkt der jahrelangen italienischen Postdemokratie (vgl. Crouch 2008). Die immer wiederkehrende Regentschaft Silvio Berlusconis hat zu einer massiven Entpolitisierung, aber auch zu einem Verlust an Seriosität und Vertrauen in Politik geführt, die als geronnene politische Kultur wohl einzigartig ist. Gerade daher rührt auch der besondere Erfolg, den Beppe Grillo, ein landesweit bekannter Komiker, als Begründer der Cinque Stelle auch erzielen konnte. Gemäß dem Credo: Wenn die Politik nicht ernst zu nehmen ist, dann kann auch gleich ein Komiker sie betreiben. Hinzu kommt aber auch, dass bis auf den Zwischenerfolg bei den Europawahlen die sozialdemokratische Partito Democratico unter Matteo Renzi ein ehrgeiziges, aber letztlich auch neoliberales und konsequenziell gescheitertes Reformprogramm anstrebte. Hierdurch wurde eine breite Wählerschaft links der Mitte frei, welche durch die Sozialdemokratie nicht mehr gebunden werden konnte. Hinzu kommt, dass es seit Jahrzehnten besondere ökonomische Disparitäten zwischen Norditalien und Süditalien gibt und Cinque Stelle gerade im wirtschaftlich hinterherhinkenden Süden als Protestpartei besondere Wahlerfolge erzielt (hier ließen sich Analogien zu den früheren Erfolgen der PDS in Ostdeutschland herstellen). Hinzu kommt selbstverständlich auch in Italien die hohe Jugendarbeitslosigkeit.
Dieser Mangel an Seriosität des Politischen, die charismatische Führungsfigur Beppe Grillo, die Entpolitisierung und eine durch einen Demagogen wie Berlusconi defekte politische Kultur sind wiederum die besonderen Spezifika Italiens, auf denen der Cinque Stelle gedeihen konnte. Es wird sich zeigen, ob dieser Weg in Regierungsverantwortung so weiter geht. Denn Virginia Raggi als Bürgermeisterin der Cinque Stelle in Rom hat gnadenlos versagt.
Syriza als tatsächlich linke, parteiförmige Sammlungsbewegung wird interessanterweise bei der Idee einer hiesigen Sammlungsbewegung nicht genannt. Aus unterschiedlichen politischen Lagern und Kräften geeint, war es vor allem der Kampf gegen Troika und Austeritätspolitik (Mason 2016: 11), aber eben auch der Wunsch nach einem Bruch mit dem bisherigen nepotistischen Zweiparteiensystem, welcher Syriza stark werden ließ. Die als Diktat empfundene Politik der Troika hat gerade in Griechenland zu einer massiven politischen Legitimationskrise geführt (Armingeon/Guthmann/Weisstanner 2015: 511; vgl. Kouvelakis: 2011). In der wechselnden Herrschaft zwischen der konservativen Nea Demokratie und der sozialdemokratischen Pasok haben aufgrund des unglaublichen Niedergangs des Landes und der tatsächlich schlechten Governance sich beide Parteien massiv diskreditiert, weshalb Syriza eben auch Unterstützung bis weit ins bürgerliche Lager erreichen konnte. Die Jugendarbeitslosigkeit ist für die Wahlerfolge von Syriza selbstverständlich ebenfalls ein relevanter Faktor.
Dieses ökonomische Desaster, für das die (ehemaligen) Volksparteien verantwortlich sind, eine derartige Fremdbestimmung durch die Troika, eine Jugendarbeitslosigkeit von temporär über 50 Prozent sowie eine unglaublich schlechte Governance sind wiederum die spezifischen griechischen Faktoren, die den Erfolg von Syriza erklären.
Das fehlende Kontingenzbewusstsein besteht also darin, dass die jeweiligen Kontextfaktoren des Erfolges von La France Insoumise, Podemos, Cinque Stelle und Syriza ausgeblendet werden. Daraus erklärt sich partiell auch die mangelnde politische Resonanz, die dieses Projekt bisher erfährt, insbesondere bei jungen Menschen.
Die strategische Notwendigkeit des Autoritarismus
Natürlich braucht eine Sammlungsbewegung eine Strategie. Diese besteht sinnvollerweise darin, in den Bereich des Politischen zu gehen, der bisher nicht repräsentiert bzw. unterrepräsentiert ist. Sofern dies auf der klassischen Achse des Politischen verortet werden soll (vgl. Volkens/Merz 2015; Dallinger 2013), gibt es kaum strategische Optionen. Hier ist links DIE LINKE, im linksliberalen Spektrum die Grünen, und Mitte-links (mit Betonung auf der „neuen Mitte“) die SPD. Daraus ergibt sich, dass eine reine Verortung hier wenig Optionen bringt, allerdings verpflichtet der Name natürlich, sich links zu verorten.
Interessanter wird es dagegen, wenn, wie jüngst häufiger geschehen, die Achse Libertarismus-Autoritarismus hinzugezogen wird (vgl. Stenner 2005). Dadurch wird die Verortung klarer und die Betrachtung komplexer. Das Schema sieht dann wie folgt aus (Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung):
Wenn dieses Schema betrachtet wird, so ist festzuhalten, dass auf der egalitären linken Seite besonders viel Platz auf der autoritären Achse ist. Hier gibt es bisher keine politische Repräsentation. Nicht umsonst versucht die AfD insbesondere im Osten, auch die soziale Frage stark zu thematisieren.
Folgerichtigerweise findet sich sowohl im Politikverständnis als auch im konkreten Diskurs der beiden Führungskräfte einiges, was auf die Achse des Autoritarismus verweist: die Betonung des Nationalstaates als souveränem Akteur, die starke Kritik an der neoliberalen Europäischen Union bei gleichzeitiger Relativierung ihrer zivilisatorischen Errungenschaften, die gegen das Parteiprogramm der LINKEN stehenden Positionierungen in der Flüchtlingspolitik, aber auch der Anspruch, Protestwählerinnen und Protestwähler zurückzuholen. Genau dieses Elektorat ist aber tendenziell als autoritär zu verorten, folglich kann eine Rückgewinnung auch tatsächlich nur mit einem hinreichenden Autoritarismus geschehen.
Der Preis für den rhetorischen und politischen Autoritarismus ist jedoch der, dass dadurch schon jetzt die bestehende LINKE dort verliert, wo sie zuletzt gewann, nämlich auf der Achse Libertarismus-Egalitarismus. Für junge, idealistische Menschen sind eben nicht mehr die Grünen oder, wie vor langer Zeit, die Jusos erste Anlaufstation, sondern es ist DIE LINKE. Dies ist anhand des Alters der vielen Neueintritte junger Menschen operationalisierbar. Diejenigen, die im Kontext der so genannten Flüchtlingskrise zur Partei kamen, sind diejenigen, die für offene Grenzen, Humanismus und Bewegungsfreiheit eintreten, also diejenigen, die stärker libertär sind. Genau diese Menschen könnte die bestehende LINKE durch den Autoritarismus eines Teils des Führungspersonals wieder verlieren, was dann die politische Linke insgesamt schwächen würde.
Insbesondere Oskar Lafontaine ist zudem für einen autoritären Führungsstil bekannt (Scharenberg 2010: 6), aber auch Sahra Wagenknecht scheint direktivere Formen der Führung, im Notfall eben auch eine Erpressung, als legitime Form der Führung anzusehen. Daraus ergibt sich, dass wahrscheinlich auch diese Sammlungsbewegung daher autoritärer und straffer geführt werden würde, als dies bisher in der Linkspartei der Fall sein würde. Innerparteiliche Demokratie kann auch anstrengend sein. Da hat es Jean-Luc Mèlenchon deutlich einfacher.
Wagenknecht hat zu viel Nancy Fraser gelesen
Vor allem die jüngsten Äußerungen von Sahra Wagenknecht, mit denen sie in der WELT die Idee einer linken Sammlungsbewegung verteidigte, zeigen eine offenkundige Affinität der Fraktionsvorsitzenden zum Denken von Nancy Fraser. Diese verfolgt das Theorem des „Progressiven Neoliberalismus“ (vgl. Fraser 2017). Diese Theorie geht davon aus, dass bestimmte progressive Gruppen sich mit Neoliberalen zusammengetan hätten, um diesen für ihr Programm Legitimation und Charisma zu verleihen. Daraus ergibt sich dann stringent eine Äußerung wie:
„Und sie alle haben diesem Uralt-Liberalismus, der aus der Zeit vor der Entstehung moderner Sozialstaaten stammt, die glitzernde Hülle linksliberaler Werte übergestreift, um ihm ein Image von Modernität, ja moralischer Integrität zu geben. Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten.“ (Wagenknecht, 26.06.2018)
In der Tat wird im Theorem des neuen Geistes des Kapitalismus genau davon ausgegangen, dass kapitalistische Eliten solche Elemente inkorporieren können (vgl. Boltanski/Chiapello 2006). Das Problem an diesem Denken und dieser Äußerung ist, dass damit Kernelemente linker Politik als instrumentalisierte Nebensächlichkeiten kapitalistischer Eliten abgetan werden. Das Interessante ist, dass das positive Bekenntnis zu diesen Werten in Wagenknechts Aufsatz eben fehlt. Denn genau das könnte die Sammlungsbewegung für ein autoritätsaffines Publikum ja unattraktiv machen.
Nancy Fraser erklärte jüngst in einem Aufsatz: „Tatsächlich ist der Zorn, den viele Trump-Wähler empfinden, einigermaßen legitim, auch wenn er derzeit zu erheblichen Teilen auf Immigranten und andere Sündenböcke fehlgeleitet ist. Die richtige Reaktion bestünde nicht in moralischen Vorwürfen, sondern in einer politischen Prüfung ihrer Situation bei gleichzeitigem Umlenken ihres Zorns auf das systembedingte Raubrittertum des Finanzkapitals.“
Daran sind fünf Sachverhalte politisch problematisch. Erstens findet damit ein Verständnis für die bestehenden Ressentiments statt, was eine politische Linke mit festen Grundüberzeugungen schlicht nicht tun kann. Zweitens wird hier zwischen einer richtigen und, im Umkehrschluss, falschen politischen Reaktion unterschieden. Genau diese Verengung auf zwei Optionen bei gleichzeitigem Insistieren auf die richtige Reaktion ist jedoch ihrem Wesen nach antipluralistisch und damit eben auch autoritätsaffin (vgl. Müller 2016). Drittens setzt dies voraus, dass Zorn erstens überhaupt umlenkbar ist, dann aber auch in einer bestimmten Bahn bleibt. Dies jedoch ist unwahrscheinlich, da Zorn immer auch ein irrationales Moment besitzt. Viertens wird damit Zorn das Momentum des Politischen. Die Aufgabe einer politischen Linken besteht aber gerade darin, Freude und Hoffnung, Zuversicht und Aufbruch zu vermitteln, eben progressiv zu sein. René Wilke hat in Frankfurt (Oder) gezeigt, wie das gehen kann. Fünftens mag es in den USA tatsächlich diese Verschränkung progressiver Bewegungen mit der Demokratischen Partei gegeben haben, die wiederum eng mit der Wall Street verbunden war. Diesen Progressiven Neoliberalismus gibt es hierzulande so aber nicht.
Epilog: DIE LINKE ist die Sammlungsbewegung
Aus alledem ergibt sich, dass die immer noch ominöse linke Sammlungsbewegung eine Kopfgeburt zweier Parteipolitiker*innen ist, deren politischer Mehrwert nach wie vor unklar ist, die aber schon jetzt konkreten politischen Schaden angerichtet hat. Die bestehende LINKE hingegen ist eine klare Sammlungsbewegung. Sie entstand aus dem Zusammenschluss der ehemaligen ostdeutschen Interessen-, Identitäts- und Protestpartei PDS und der WASG, einem linkssozialdemokratischen Parteiprojekt (vgl. Dörre 2013). In der LINKEN sind aber auch verschiedenste andere Menschen, ob aus ökologischen Kontexten, der LGBTIQ-Bewegung, aus der Kunst- und Kulturszene, aus der Flüchtlingshilfe usw.
In der Tat lässt sich zu Recht kritisieren, dass es dieser LINKEN an strategischer Orientierung und auch an strategischer Führung mangelt. Aber sie ist das Beste, was wir haben, und sie wächst insgesamt, insbesondere in den alten Bundesländern. In einer historischen Situation, in der es erstmals so sein könnte, dass der parteipolitisch organisierte Konservatismus sich anhand seiner Widersprüche (Habermas 2016: 39) spaltet, sollte die politische Linke genau diesen historischen Fehler nicht erneut machen. Statt also die Sammlungsbewegung weiter zu verfolgen, sollte alle Kraft auf die bestehende Sammlungsbewegung gerichtet und diese klar verortet werden. Hierbei gilt allerdings das alte Diktum von Wilhelm Liebknecht: Erst Klarheit, dann Einheit.
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