Alt, vorerkrankt, nicht immun als neue Stigmata?
Dass Alte und Kranke ein Leben in Würde haben sollen, galt bisher als eine Grundvereinbarung in unserer Gesellschaft. Normativ war klar: Leben ist zu schützen. Punkt. Dafür leistet die Gesellschaft hohe Ausgaben für Renten, Gesundheit und Pflege. Doch seit der Corona-Seuche hört die Debatte nicht auf, ob die Rechte von „Risikogruppen“ nicht zurückstehen sollten. Bis vor wenigen Wochen wies der Begriff „Vorerkrankung“ vor allem auf eine besondere Schutzbedürftigkeit hin. Es war ein Begriff der Fürsorge. Jetzt wird er zum Kampfbegriff für die Rücksichtslosen, Berechnenden und Gleichgültigen.
„Es trifft doch nur die Alten und Vorerkrankten…“ bedeutet im Kern: Wir wollen keine Einschränkungen, weil es uns ja nicht trifft. Genau hier ist der Punkt, wo eine Gesellschaft sich entscheiden muss. Müssen alle Restriktionen auf sich nehmen, um auch die Alten und Schwachen zu schützen, oder sind deren Leben und deren Würde weniger wichtig als die der Jungen und Gesunden? Von Kant stammt die Erkenntnis:
Was einen Wert hat, hat auch einen Preis. Der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde.
Daraus folgt: Jedes Leben ist gleich wichtig und Menschenleben dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Genau das passiert jetzt in diesem Lande. Wir haben in unserer Geschichte gesehen, wo das hinführt.
Wir leben (noch) in einer Gesellschaft, in der für eine 35-Jährige Krebs-Patientin ebenso ein langes und einschränkungsarmes Leben möglich ist wie für den 76-Jährigen Mann, der nach einem Herzinfarkt wieder mit seiner Frau reisen konnte. Dies sind Menschen aus meinem privaten Umfeld, die nun einer zynischen öffentlichen Debatte ausgesetzt werden. Man müsse doch nur die „Alten“ und „Vorerkrankten“ isolieren, dann könnten alle anderen wieder wie vorher leben. Das heißt im Klartext: Die, die nicht jung und gesund genug sind, haben weniger Würde, weniger Rechte und weniger Freiheiten.
Immun oder nicht immun, das ist hier die Frage
Ein weiterer Paradigmenwechsel findet gerade statt. Gesundheitsminister Jens Spahn will einen Immunitätsnachweis einführen. Und das klingt doch erst einmal nicht schlecht. So könnten für Menschen, die diesen Immunitätsnachweis haben, Kontaktsperren gelockert werden. Der Nachweis sei doch nur eine harmlose Corona-Ergänzung zum Impfausweis. – Nein, ist er nicht.
Weder gibt es eine Beschränkung auf den Virus, noch eine Befristung der Nachweispflicht für die Zeit der Pandemie. So würde faktisch über Nacht eine neue Form von gesellschaftlicher Ungleichheit geschaffen. Diejenigen, die immun sind, können von Kontaktbeschränkungen ausgenommen werden. Unternehmen können so ihren Personalbestand restrukturieren und versuchen, die Risikogruppen loszuwerden. Werden sie ohne ausreichende Immunität je wie einen gleichwertigen Job finden? Schlimmer noch: Menschen könnten sich gezwungen sehen, sich bewusst selbst zu infizieren und das Risiko schwerer Schädigungen bis zum Tod einzugehen, um wieder Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Mit dem Immunitätspass wird eine Einteilung der Gesellschaft in „Immune“ und „Nicht-Immune“ festgeschrieben und der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen – mit allen Vorteilen für die „Immunen“ und allen Nachteilen für die „Nicht-Immunen“. Der Immunitätspass ist ein Instrument der Selektion.
Auch wenn es höchst zweifelhaft ist, ob dies verfassungsrechtlich Bestand haben kann, ist dies ein besonders bizarres Beispiel dafür, welche gnadenlose Bereitschaft besteht, sie für den Abbau von Grundrechten zu missbrauchen.
Die Kritik an diesem Szenario ist nötig. Wir brauchen aber auch Alternativen. Klar ist, dass ein dauerhafter Lockdown für viele Menschen massive soziale Nachteile bis hin zur Existenzzerstörung hätte. Der Lockdown war im ersten Schritt richtig, kann aber nicht von Dauer sein. Die wichtigste Maßnahme aus meiner Sicht ist konsequentes, regelmäßiges, kostenfreies Testen. Und wir brauchen wir eine umfassende Reform unserer Sozial- und Gesundheitssysteme.