Helmut Scholz
Helmut Scholz – Foto: Uwe Völkner/FOX

Der Europäische Grüne Deal für einen sozial-ökologischen Neustart

Kern eines wirtschaftlichen Neustarts muss der sozial-ökologische Umbau (SÖU) unserer Gesellschaft sein, Klima- und Umweltschutz kommt gemeinsam mit sozialen Fragen eine zentrale Rolle zu. Der Europäische Grüne Deal (EGD) soll auf EU-Ebene einen sozial-ökologischen Neustart ermöglichen. Einige Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, stellen leider schon in der jetzigen Konzipierungsphase gleich wieder vergleichsweise ambitionierte und dennoch nicht ausreichende klimapolitische Zielsetzungen der EU infrage. Noch bedenklicher: Leugner*innen des Klimawandels, die die COVID-19-Pandemie nutzen wollen, um ihre Ideen ausgrenzender und ausbeutender Besitzstandwahrung, ihre Egoismen zu propagieren, melden sich zu Wort. Aber die Erde ist keine Scheibe und die enormen Gefahren, die vom Klimawandel ausgehen, sind wissenschaftlich fundiert belegt. Also sind neben dem inhaltlichen Arbeitsprozess am notwendigen sozial-ökologischen Umbau zugleich auch die Eckpunkte für einen solchen EGD zu kommunizieren, sind dessen Notwendigkeiten und Chancen aufzuzeigen, um Politik und Zivilgesellschaft gleichermaßen zu aktivieren.

Der EGD – Programm für den Neustart

Der SÖU braucht höchste Priorität. Wir müssen uns EU-weit und darüber hinaus dem Widerspruch stellen, dass Umweltbewusstsein zweifellos gewachsen ist – auch dank Fridays-For-Future-Engagement der Jugend weltweit – aber zugleich mit radikal steigendem Umweltverbrauch korreliert. Die Wirtschaftsrealität wird nach wie vor geprägt von der Logik, dass Wachstum nicht nur notwendig, sondern unabdingbar für gesellschaftliche Stabilität und Entwicklung sei. Also wird in BIP gemessen und Wachstum generiert. Und richtig ist, dass die ständige Steigerung des Ressourcenverbrauchs weltweit „das zivilisatorische Modell des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert in Schwierigkeiten bringt“ (H. Welzer).

Richtig ist, dass von Strukturwandel bedrohte Arbeitsplätze (auch in grünen Sektoren) so erhalten werden müssen, dass dieser Prozess eine andere Wirtschaftsweise und Zukunftstauglichkeit unserer Wirtschaftsweise schon ab 2030 ermöglicht. Mit dem EGD ist jetzt und hier in neue Beschäftigung, den Umbau des Arbeitslebens und eine gesellschaftliche Akzeptanz von (Erwerbs-)Arbeit und sozialer Grundsicherung zu investieren, der Strukturwandel gehört angepackt und EU-weit sozial gerecht gestaltet.

Dazu gehört eine Lehre aus der andauernden Corona-Krise: Dieser SÖU erfordert die Überwindung geschlechtsspezifischer Ungerechtigkeit in der heutigen Arbeitswelt, deren Kosten die Frauen tragen. SÖU verlangt, die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern neu zu regeln. Weiter sind Wirtschaft und die Organisation öffentlicher Dienstleistungen neu zu justieren um sie zukunftstauglich zu machen. Die Arbeit am EGD geht einher mit einer industriepolitischen Strategie 4.0, eine Mobilitätswende, bezahlbare energiearme Wohnformen, Künstliche Intelligenz und Digitalisierung aller Produktionsprozesse, einschließlich in der nachhaltigen Neuausrichtung der Landwirtschaft (EU-Strategie „Vom Hof auf den Tisch“) und auch einer neuen Außenhandelsfokussierung.

Covid-19 mit seinen dramatischen globalen Auswirkungen – wie garantieren wir gute und verfügbare Ernährung für Alle auf unserem Planeten – macht die Dringlichkeit eines tiefgreifenden SÖU auch vor dem Hintergrund des dramatischen Verlusts der Biodiversität (biologische Vielfalt als Überlebensfrage der Menschheit) deutlich wie nie – kein Mitgliedstaat, keine Region kann sich ausklinken. Klima- und Umweltschutz und wirtschaftlicher Umbau sind kein Widerspruch, sondern gehen Hand in Hand.

Was spricht für den EGD?

Eine gemeinschaftlich gewollte und entwickelte EU-Industrie- und Klimastrategie kann langfristige Perspektiven und Planungssicherheit beim SÖU befördern. Sie muss Investitionen in Infrastruktur, in alle volkswirtschaftlichen Sektoren, in die öffentlichen Güter, in Kultur und Bildung, Kommunikation befördern, in die Neustrukturierung globaler Wertschöpfung und Lieferketten anregen. Es geht also auch um Verteilung und Überwindung der neoliberalen Idee: „Geiz ist geil“. Sind doch die derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen auch Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik und des Sparzwangs, die sich seit der Krise 2008 in Europa etabliert haben.

Ebenso haben die Auslagerung der Produktion und das Just-in-time-Prinzip in den Lieferketten – aus Profitgründen so gewollt – auch zu vermeidbaren Engpässen bei medizinischer Ausrüstung und Medikamenten geführt. SÖU, der EGD verlangen an die Stelle von Gewinnmaximierung die soziale und ökologische Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit zum Kern, Prinzip und Kriterium unseres weltweit praktizierten Wirtschaftssystems zu machen. Diesen EGD in dieser Legislatur erfolgreich zu etablieren und umzusetzen wird ein riesiger Kraftakt. Aber es gibt keine vernünftige Alternative. An die Arbeit!