Rücken gerade, Faust erhoben
Anja Mayer ist gerührt. „So viele Rosen habe ich noch nie bekommen.“ Aus 56 roten Rosen besteht der Blumenstrauß. 56 ist die Nummer des Bundestagswahlkreises, in dem Mayer nun also im kommenden Jahr für die Linke antreten wird. Mit 59 Stimmen wird sie am Freitagabend in Bluhms Hotel & Restaurant in Kyritz nominiert. Es gibt zehn Gegenstimmen und eine Enthaltung.
Der ausgedehnte Bundestagswahlkreis 56 im Nordwesten Brandenburgs besteht aus den dünn besiedelten Landkreisen Prignitz und Ostprignitz-Ruppin und aus einem Stück des Havellandes. 391 Genossen wohnen hier, 71 von ihnen sind in Kyritz erschienen, um ihre Direktkandidatin für die Bundestagswahl 2021 zu nominieren. Einer gibt seine Stimme allerdings nicht ab.
56 rote Rosen hatte auch die Bundestagsabgeordnete Kirsten Tackmann (Linke) erhalten, als sie vor vier Jahren in diesem Wahlkreis nominiert wurde. Im kommenden Jahr hört sie auf. Tackmann ist anwesend und bekommt – nachträglich zu ihrem 60. Geburtstag am 24. September – eine Packung mit Samen alter Gemüsesorten und einen Gutschein für den Baumarkt. Denn die Abgeordnete entspannt sich gern bei der Gartenarbeit. Vorerst wird sie aber weiterhin wenig Zeit dafür finden. Sie verspricht, Anja Mayer im Wahlkampf zu unterstützen.
Die 40-jährige Mayer stammt aus Bayern, aus einer ähnlich ländlich geprägten Region. Sie wohnt in Potsdam, wo ihr achtjähriger Sohn die Schule besucht. Landesvorsitzende der Linkspartei ist sie und hat sich vorgenommen, eine Zweitwohnung im Wahlkreis 56 zu suchen, wenn sie im Bundestag sitzt. Die Chancen für ihren Einzug ins Parlament stehen gut, wenn Mayer Platz zwei auf der Landesliste der brandenburgischen Linkspartei bekommt, für den sie sich bewirbt.
Als gelernte Arzthelferin weiß Mayer, was es bedeutet, wenn der Rettungswagen in einer ländlichen Gegend 45 Minuten bis zum Einsatzort benötigt. Der Patient kann dann bereits tot sein. Sie fordert, dass ein Rettungshubschrauber in Neuruppin stationiert wird, ohne dafür den Standort in Perleberg aufzugeben. Dem Gesundheitswesen sind lange Abschnitte ihrer Rede in Kyritz gewidmet. „Für uns muss der Grundsatz gelten: Gesundheit ist keine Ware!“ Das ist eine der Aussagen, für die sie Beifall erhält.
Mayer hält nichts von den Diskussionen in der Partei, sich auf die Metropolen zu konzentrieren, in denen die Linke zuletzt leichter Stimmen und Mitglieder gewonnen hat. Denn es gebe in vielen Ländern Beispiele, so argumentiert sie, dass sich rechte Parteien zuerst die ländlichen Regionen holen und dann insgesamt stark werden. „Das dürfen wir nicht zulassen“, warnt sie. Zum kommenden Wahlkampf sagt Mayer: „Lasst uns witzig sein und auch frech.“ Sie fügt hinzu: „Wir müssen nach draußen gehen, den Rücken gerade machen.“
Mit dem Strauß roter Rosen in der linken Hand steht sie da und hebt lächelnd die rechte Hand – zur Faust geballt. Ein paar Genossen erwidern diesen alten Gruß der Arbeiterbewegung. Jetzt wäre es passend, die Internationale anzustimmen, bemerkt Versammlungsleiter Paul Schmudlach. Doch wegen der Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus sei es leider nicht erlaubt, in geschlossenen Räumen zu singen. Hier, im Westen Brandenburgs, gewann die Linke noch nie einen Bundestagswahlkreis, nur in den vier Wahlkreisen an der polnischen Grenze ist das in der Vergangenheit gelungen. Schmudlach betont jedoch: „Wir können Wahlkampf. Dieser Wahlkreis ist kein Erbhof von Sebastian Steinecke.“ Der CDU-Bundestagsabgeordnete Steinecke hatte 2017 das Direktmandant geholt.
Erschienen am 5. Oktober 2020 auf www.neues-deutschland.de (Link).